DOMRADIO.DE: Der Einfluss der christlichen Religion auf die westlichen Gesellschaften geht konstant zurück. Nicht nur in Europa, sondern auch bei Ihnen in Amerika, wo die Gesellschaft noch religiöser geprägt ist als bei uns. Woran liegt das? Warum sinkt das Interesse an Religion?
Prof. Miroslav Volf (Professor für systematische Theologie, Direktor des "Center for Faith and Culture" an der Yale-Universität in den USA): Das ist gar nicht mal so einfach zu beantworten. Das ist ziemlich komplex. In gewissem Sinne erleben wir im Moment eine innere Selbst-Säkularisierung der Kirchen und das seit einiger Zeit schon. Das betrifft auch nicht nur die progressiven Strömungen der Christen in Amerika, sondern auch die Konservativen.
Die Substanz des Glaubens als solche geht verloren. Die Leute finden in den Kirchen heutzutage nichts mehr, dass sie nicht auch anderswo finden. Das führt dazu, dass die Kirchen versuchen soziale Entwicklungen und Trends zu imitieren oder aufzugreifen. Ich frage mich manchmal, ob die Leute nicht denken: Warum sollen wir die Second Hand-Version eines gesellschaftlichen Trends aufgreifen und nicht das Original, ohne den religiösen Unterbau? Diese Abnabelung von der Religion hat ein signifikantes Ausmaß angenommen.
Ich finde es aber genau so bedeutend, dass sich die Kirchen mehr und mehr mit der Politik verbandeln und die Politik immer mehr Einfluss auf die Kirche nimmt. Das haben wir schon in der Bush-Präsidentschaft gemerkt, bei Trump ganz besonders. Das ist eine problematische Herangehensweise an die Politik geworden. Dadurch haben die Kirchen auch definitiv an Ansehen und sozialem Kapital verloren.
DOMRADIO.DE: Es gibt also Interesse an der Kirche als Gemeinschaft, das heißt aber nicht unbedingt, dass damit auch ein Interesse an der Religion verbunden ist?
Volf: Das habe ich in der Tat so festgestellt. Es besteht nicht unbedingt an ein Interesse an der Geschichte von Jesus Christus, was mich als Theologen erst mal schockiert. Dass Jesus als Figur die Menschen bewegt war mir klar. Wenn das Interesse aber eher an der Institution hängt, kann das aus verschiedenen Gründen problematisch werden. In den letzten zehn Jahren ist das in Amerika sehr deutlich geworden. Die Popularität der Kirche nimmt zwar ab, aber wenn eine Kirche anklang findet, hat das mehr mit ihren Angeboten und ihrer politischen Positionierung zu tun, als mit Jesus.
Kirchen engagieren sich politisch und sozial, ob es nun auf der konservativen oder progressiven Seite ist. Damit können sich Menschen identifizieren und eine Gemeinschaft finden. Sie können etwas gutes für das Gemeinwohl tun. Wenn es aber um das Evangelium und das Leben Christi geht, gibt es da oftmals ein Fremdeln mit dieser Figur.
Ich fasse das für mich gerne so zusammen: Die meisten Dinge, die für Jesus wichtig waren, spielen heute für den normalen Kirchgänger keine große Rolle mehr. Und die meisten Dinge, die den normalen Menschen auf der Straße bewegen, hätten Jesus überhaupt nicht interessiert. Beispiel: Wir haben keine Ahnung, wie Jesus aussah. Aussehen und ästhetische Aspekte scheinen für Jesus und die Evangelisten überhaupt keine Rolle gespielt zu haben. Während wir heute gerne mal Stunden vor dem Spiegel verbringen um das Bild zu perfektionieren, das wir abgeben. Von Social Media noch gar nicht angefangen.
Das ist nur ein Beispiel von vielen, das für mich eine wichtige und auch beunruhigende Frage aufwirft: Führt der Abstand zu Jesus auch zu einer Abwendung der Kernidee von Kirche und Glauben?
DOMRADIO.DE: Warum haben denn dann die Menschen überhaupt noch Interesse an einer Kirche, wenn es nicht mehr um die Kernbotschaft geht? Geht es nur noch um Gemeinschaft und politische Ziele? Um Identifikation? Da könnte man auch einer Partei oder einem Verein beitreten.
Volf: Genau das geschieht ja, besonders bei der jüngeren Generation. Das sehen wir auch an den Zahlen. Immer weniger junge Leute identifizieren sich mit einer Glaubensgemeinschaft. Zum Teil liegt das sicher auch an einer Trägheit, vielleicht aber auch daran, dass es heute andere Formen der Spiritualität sind, die die Menschen anziehen. Ich denke im Großen und Ganzen ist die Religiosität als Konzept nicht in der Krise. Es gibt nur andere Formen, Aktivismus zum Beispiel, die dann eine neue, religiöse Dimension entwickeln können. Einige finden das in der Kirche, andere wo anders, aber viele sind auf der Suche nach einer vagen Idee von Transzendenz, die eine Rolle spielt.
Was mich beunruhigt, und das ist kein neues Phänomen, ist, dass sich der moralische Unterbau der Religionsgemeinschaften aus dem Inneren mehr und mehr in Luft auflöst. Ein Beispiel dafür sind die Gemeinschaften in Amerika, die materiellen Reichtum als Gnade Gottes predigen, den sogenannten "Prosperity Gospel". Das ist eine moralische Aushöhlung der Botschaft und in gewissem Sinne auch eine Instrumentalisierung. Das wird von außen herangetragen, es hat nicht mehr viel mit der Botschaft Jesu zu tun.
DOMRADIO.DE: Gibt es da einen Unterschied zwischen den politisch links oder rechts eingestellten Kirchen und Religionsgemeinschaften?
Volf: Ich sehe diese Instrumentalisierung des Glaubens auf beiden Seiten. Die religiöse Rechte legt in der Öffentlichkeit mehr Fokus auf die Religiosität. Für progressive Bewegungen spielt es eine geringere Rolle, dass sie sich als Religionsgemeinschaften definieren. Ich bin mir nicht so ganz sicher woran das liegt.
DOMRADIO.DE: Was denken Sie, wo wird das alles hinführen? Fällt das Konzept der organisierten Religion in sich zusammen, wenn das Evangelium als Zentrum für die Kirchen keine Rolle mehr spielt?
Volf: Ich bin mir da nicht sicher. Ich denke es würde zusammenbrechen, wenn es eine tragende und attraktive Alternative zu Gemeinschaften des Glaubens geben würde. Das sehe ich im Moment nicht. Ich sehe nicht, dass areligiöse Menschen ein erfüllteres Leben führen. Wenn man das Gewicht des eigenen Lebens komplett aus eigener Kraft tragen und ertragen muss, macht es das Leben nicht unbedingt einfacher. Ich sehe einen neuen Hunger nach einer gewissen Form von Religiosität. Für die Kirchen steckt da eine große Chance drin, die müssen sie allerdings auch ergreifen.
Das können sie nur, wenn sie authentisch aus der Botschaft Christi – oder ihrer entsprechenden anderen Überzeugung – leben. Es darf nicht nur um Dogmatik und Moral gehen, sondern um einen Kompass für das wahre Leben. Das war in der Geschichte schon immer attraktiv, schauen Sie sich die Heiligengeschichten an. Diese Menschen inspirieren mit ihren Lebensgeschichten selbst Jahrhunderte später noch. Ich hoffe, dass wir das auch für die Zukunft wieder entdecken, dann haben die Kirchen auch eine Chance auf Zukunft.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Zur Info: Miroslav Volfs neues Buch "Life worth Living - Wofür es sich zu leben lohnt" ist gerade auf deutsch erschienen. Es hat 352 Seiten und kostet 24 Euro.