DOMRADIO.DE: Australische Ureinwohner können laut des Erzbischofs von Brisbane, Mark Coleridge, mit dem Pflichtzölibat nichts anfangen, weil ihre Kultur und der Zölibat nicht zusammenpassen. So gesehen könnte die Verpflichtung zur Ehelosigkeit weichen. Aber es heißt doch auch immer, dass der Zölibat durchaus einen hohen Wert für die Arbeit der Priester habe.
Prof. Dr. Thomas Sternberg (Theologe und ehemaliger Vorsitzender des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken): Ja. Er ist aber immer nur eine disziplinarische Frage und keine theologische Frage. Für den Diakonat, der als einer des dreigestuften Amtes lange existiert hat, hat immer der Zölibat gegolten. Diese Verpflichtung zur Ehelosigkeit hat das Zweite Vatikanum aber sang- und klanglos bei der Wiedereinführung des Diakonats aufgegeben.
Ein Kulturproblem ist das übrigens nicht nur bei den Aborigines, das ist es auch in Afrika. Das hat auch das Schlussdokument der "Querida Amazonias"-Synode deutlich gemacht.
DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche heute spricht und sieht anders aus als noch vor 1000 Jahren. Wäre es da nicht auch angemessen, mit Blick auf die indigenen Traditionen, für bestimmte Regionen pauschal vom Pflichtzölibat zu dispensieren?
Sternberg: Dazu ein Zitat: "Natürlich ist der Priestermangel nicht allein durch die Zölibat- Verpflichtung bedingt, sondern hat auch viele andere und tiefergehende Gründe. Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, dass die beiden Dinge nichts miteinander zu tun hätten. Wenn ohne eine Änderung der Zölibats-Gesetzgebung ein genügend großer Priesternachwuchs nicht zu gewinnen ist – und diese Frage ist auch für unser Land bedrohlich offen –, dann hat die Kirche einfach die Pflicht, eine Veränderung vorzunehmen". Dieser Text stammt aus dem Jahr 1970. Es haben die damaligen theologischen Berater der Deutschen Bischofskonferenz, der Glaubenskommission, unterschrieben. Und da sind immerhin solche Namen wie Leo Scheffczyk, Joseph Ratzinger, Karl Rahner, Karl Lehmann und Walter Kasper versammelt.
Das heißt, es ist ein ganz altes Problem. Die sprechen im Grunde an, was das Zweite Vatikanum als eine "Hierarchie der Wahrheiten" bezeichnet hat. Es gibt unterschiedliche Wichtigkeiten in kirchlichen Dingen. Und ohne Frage ist die Sicherung der Eucharistiefeier für die Gläubigen wichtiger als die disziplinarische Frage nach der Lebensform der Priester.
DOMRADIO.DE: Ein Gegenargument ist, dass wir uns nur an die Vielzahl der Priester gewöhnt haben und dass es in früheren Jahrhunderten ohnehin weniger Priester gegeben habe. Also ist der Priestermangel vielleicht gar nicht so stark, wie es uns aufgrund der letzten Jahrzehnte erscheint?
Sternberg: Man kann natürlich alles schönrechnen. Wir haben übrigens heute tatsächlich mehr pastorale Mitarbeiter in unseren Pfarreien und Gemeinden als noch vor 30 Jahren. Aber das sind Diakone, deren Zahl sich in den letzten Jahren um 50 Prozent erhöht hat. Das sind Pastoralreferenten und -referentinnen, Gemeindereferenten und -referentinnen.
Nein, es ist unglaublich dramatisch. Ich nenne nur mal ein paar Zahlen: Zwischen 1990 und 2020 haben wir 36 Prozent weniger Priester. Die Weihen sind um 85 Prozent von 1990 bis heute gesunken. Das heißt, wir hatten im letzten Jahr ganze 45 Priesterweihen.
Im Bistum Münster hatten in diesem Jahr keine einzige Priesterweihe. Das ist alles extrem dramatisch. Da gibt es eigentlich nichts mehr schönzureden.
Wir brauchen Priester. Unsere Seelsorge wird noch durch den wirklich bewundernswerten Einsatz von teilweise sehr alten Priestern aus den riesengroßen Jahrgängen der 1960er Jahre aufrechterhalten. Diese Priester verrichten heute immer noch mit über 80 Jahren ihren Dienst. Das ist bewundernswert. Aber es ist natürlich absehbar, dass das bald zu Ende ist. Wir brauchen ganz dringend eine Veränderung.
DOMRADIO.DE: Doch die Veränderung scheint es ja nicht unbedingt zu geben, denn die Amazonas-Synode 2019 im Vatikan hatte auch schon in ihrem Schlussdokument angesichts des Priestermangels davon gesprochen, dass es wichtig wäre, Ausnahmen vom Pflichtzölibat zu ermöglichen. Doch Franziskus hat diese Anregung damals nicht aufgegriffen. Wie wahrscheinlich ist es denn, dass sich da demnächst irgendetwas auf Ebene des Vatikans ändert?
Sternberg: So wie ich den Vatikan und seine unglaublichen Beharrungskräfte und Borniertheiten einschätze, kommt man nur weiter, indem man vollendete Tatsachen schafft. Wir haben in Deutschland und auch in ganz Europa eine ganze Reihe von verheirateten Priestern mit Familie. Das sind übergetretene anglikanische Pfarrer, das sind ehemals evangelische Pfarrer.
In meiner Pfarrei ist das zum Beispiel jemand aus Rumänien, der mit seiner Frau und zwei Kindern hier Pfarrdienst tut. Das geht alles ganz wunderbar.
Ich frage mich, warum nicht drei, vier Bischöfe einmal den Mut haben, besonders ausgewählte gute Diakone, theologisch ausgebildet, alles sauber, geklärt und organisiert, einfach mal zu weihen?
Wenn sie das täten, was würde denn passieren? Welche Sanktionsmöglichkeiten hätte Rom dann? Ich würde mich freuen. Es gäbe jetzt mal die Chance für den Mut, Dinge zu tun und nicht darauf zu warten, dass im Vatikan die Dinge wieder 50 Jahre lang einfach ausgesessen werden.
Das Interview führte Mathias Peter.