Wieder einmal ist Deutschland das Schlusslicht, wenn es um das Thema Behinderung geht. Zumindest scheint es so, wenn man auf die Staatenprüfung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention schaut, die am 29. August 2023 in Genf veröffentlicht wurde.
Im europäischen Vergleich wird deutlich, dass in Deutschland 4,5 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, also ca. 330.000 junge Menschen, eine Förderschule besuchen, von denen 70 Prozent die Schule ohne einen anerkannten Abschluss verlassen, wodurch die Teilhabe am beruflichen und somit auch gesellschaftlichen Leben erschwert wird. In der Tat sind das auf den ersten Blick mehr als ernüchternde Zahlen.
Differenzierung ist nötig
Sicher wird man hier differenzieren müssen. Förderschule ist in Deutschland nicht gleich Förderschule. Es gibt Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung, Hören und Kommunikation, körperliche und motorische Entwicklung und – man mag es kaum glauben – Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen.
Sollten das nicht alles Förderschwerpunkte an allen Schulen sein? Nun gut, das mögen semantische Spitzfindigkeiten sein. Fakt ist, dass das Förderschulsystem im deutschen Schulwesen wie alle anderen Schulen geregelt ist und manche der Förderschulen ihre Schülerinnen und Schüler auch gezielt zu Abschlüssen führen. Schülerinnen und Schüler, die allerdings etwa eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besuchen, erreichen einen solchen Abschluss eigentlich nie. Lässt man die gesellschaftlichen üblichen Euphemismen einmal beiseite, wird auch klar, warum: Es handelt sich in der Regel um Menschen mit einer geistigen Behinderung, die aufgrund ihrer Einschränkung besonderer Förderung bedürfen.
Auch wenn der Wille zur Inklusion gut und richtig ist, kann man die Augen vor den besonderen Bedürfnissen etwa der geistig Behinderten nicht einfach verschließen. So gesehen ist die bundesdeutsche Differenzierung an sich nicht falsch. Problematisch ist etwas anderes – und das blitzt in den Zahlen auf.
Forderung nach gerechter Bezahlung
Wo es keine Förderschulen gibt, wird auch kein besonderer Förderbedarf festgestellt. Behinderte Kinder laufen dann einfach mit oder bleiben zu Hause. Sie tauchen in keiner Statistik auf. Das relativiert die Statistik – aber nur scheinbar. Wer, wie der Verfasser des Kommentars, selbst Vater von zwei Menschen mit geistiger Behinderung ist, kann die Entwicklung schon länger beobachten.
Meine Kinder haben beide Down-Syndrom, haben zuerst eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besucht und arbeiten nun in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Es geht ihnen dort gut. Allerdings erhalten sie in der Werkstatt selbst nur einen Stundenlohn in Höhe von ungefähr 1,15 Euro. Die Zuschüsse, die sie Werkstätten erhalten, belaufen sich hingegen auf ein Vielfaches. Wer von Inklusion und Teilhabe am Arbeitsleben redet, muss hier anfangen. Auch wenn nicht jeder bei allem guten Willen fit für den ersten Arbeitsmarkt ist: Denen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten wollen, müssen die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden (auch den Arbeitgebern); die, die selbst mit bester Unterstützung dort nicht arbeiten können, müssen, weil auch sie eine wertvolle Arbeit leisten, gerecht entlohnt werden.
Wohl kaum jemand ist nicht in Kontakt mit der Arbeit Behinderter gekommen: jeder Postlagerschrank in einer Straße hat Schlösser, die in Werkstätten für Behinderte montiert wurden; und auch die Tüten mit den Schrauben in Sets für Möbeln zur Selbstmontage verpacken sich nicht von selbst.
Das Problem hinter den Zahlen und Statistiken
Noch eklatanter aber wird die Entwicklung in den Förderschulen sichtbar. Ich selbst war 13 Jahre lang Vorsitzender der Schulpflegschaft einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In diesen Jahren stieg die Zahl der Schülerinnen und Schüler stetig an. Mittlerweile hat sich der Anstieg sogar noch beschleunigt – und der ist in der Zahl der UN-Behindertenrechtskonvention sichtbar: Fast jedes 20. Kind hat demnach einen besonderen Förderbedarf – und die Zahl steigt weiter an! Dabei scheint es doch nicht schlecht, Kinder besonders zu fördern, oder etwa nicht?
Tatsächlich ist die Feststellung eines besonderen Förderbedarfs der Einstieg in die Sphäre der Förderschulen. Lehrerinnen und Lehrer beobachten in Klassen immer häufiger Kinder, die nicht der Norm entsprechen und raten den Eltern zur besonderen Förderung. Darunter sind statistisch gesehen auffällig viele Kinder, die Migrations- oder Fluchterfahrungen gemacht haben.
Niemand fragt, ob das normabweichende Verhalten möglicherweise Folge eines Traumas oder schlicht und ergreifend Folge sprachlicher Defizite ist. Oft wird eher Förderbedarf "Lernen", "Soziale oder emotionale Entwicklung" oder "geistige Entwicklung" festgestellt. Die Eltern freuen sich zuerst über die besondere Förderung, in der "alten" Klasse kann wieder in Ruhe gelernt werden und ein Kind geht seinen neuen, besonderen Weg, der eben oft ohne Abschluss endet und so ein Leben vorprägt. Das ist das eigentliche Problem hinter den Zahlen. Kann man das lösen?
Was ist eigentlich "normal"?
Man könnte, wenn man wollte. Ein erster Schritt wäre die Klärung der Frage, was eigentlich "normal" ist. Solange das Gymnasium immer noch als der erstrebenswerte Normzustand schlechthin gilt, wird sich nichts ändern. Würde man aber die Parameter einer Förderschule auch auf die "normalen" Schulen übertragen (max. 15 Kinder und mindestens zwei Lehrkräfte pro Klasse, die Klassenzimmer und Nebenraum zur Verfügung hat) würde auch die "normalen" Schülerinnen und Schüler profitieren.
Nicht jedes "normabweichende" Verhalten, das jetzt die Klassendynamik "stört", wäre dann überhaupt ein Problem. Vielmehr würden die einzelne Schülerin und der einzelne Schüler, egal welche Voraussetzungen sie oder er hat, mit seinen Bedürfnissen in den Blick kommen.
Geld als eine wichtige Voraussetzung
Wie soll das gehen, werden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, fragen? Wer soll das bezahlen, woher sollen die Mittel, woher das Personal kommen? Das ist das Problem: Ohne ausreichende finanzielle, materielle und personelle Ressourcen wird Inklusion immer eine Illusion bleiben. Hinzu kommt noch der oft anzutreffende und gesellschaftlich verbreitete Egoismus: Mein Kind soll sich störungsfrei entwickeln können. Wer stört, muss weichen!
Ausreichend Geld, Mittel, Personal und eine neidfreie Gesellschaft mit solider Toleranzschwelle dem Außergewöhnlichen gegenüber, wären die Voraussetzung für das Gelingen einer Inklusion, die den Namen auch verdient, eine Inklusion, die nicht leugnet, dass es für viele tatsächlich einen besonderen Förderbedarf gibt, der es ermöglicht, am Leben der Gesellschaft teilzuhaben. Behindert ist man nämlich nicht, behindert wird man – auch und vor allem durch eine Gesellschaft, die so tut, als gäbe es Behinderte mit ihren besonderen Bedürfnissen nicht!
Über den Autor: Dr. Werner Kleine ist Pastoralreferent bei der katholischen Citykirche Wuppertal. Seine Frau und er haben zwei Menschen mit Down-Symdrom adoptiert, die mittlerweile 25 und 28 Jahre alt sind. Kleine war 13 Jahre lang Vorsitzender der Schulpflegeschaft der Schule am Nordpark (Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung), seit sechs Jahren ist er im Vorstand bzw. im Aufsichtsrat des Troxler-Haus e.V. tätig, das unter anderem auch Werkstätten für Menschen mit Behinderungen betreibt. Außerdem ist Kleine rechtlicher Betreuer für vier Menschen mit geistiger Behinderung.