DOMRADIO.DE: Die Bildhauerin Silke Rehberg, von der diese Statue stammt, bezeichnete deren Abbau als voreilig. Es hätte eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit geben sollen, wie mit der Figur weiter umzugehen sei. Stimmen Sie dem Einwand der Künstlerin zu?
Florian Bock (Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ruhr-Uni Bochum; ehem. Juniorprofessur – Schwerpunkt Geschichte des Bistums Essen): Ich stimme dem Einwand der Künstlerin zu. Aber erst – das muss ich zugeben – nach längerem Nachdenken. Zunächst war mein spontaner Impuls, es ist genau richtig. Die Wucht der Ereignisse, die Wucht der Nachrichten, die Wucht dieses Missbrauchsskandals haben mich zunächst auch sprachlos gemacht. Mein ganzes Mitgefühl galt den Betroffenen. Und so war eigentlich die naheliegendste Lösung, nicht nur in meinem spontanen Impuls, sondern auch im Bistum, die Statue abzubauen.
Das ist eine alte Kulturtechnik: "damnatio memoriae". Die ist seit der Antike bekannt, in der Weltgeschichte uns immer wieder begegnend: eine Auslöschung der Erinnerung oder eine Auslöschung des Andenkens. Das war aufgrund der Wucht der Ereignisse in der letzten Woche nicht anders möglich.
Ich denke jetzt aber mit etwas Abstand, Frau Rehberg hat nicht unrecht. Sie hat ja auch vorgeschlagen, nicht nur eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit anzustoßen, sondern auch die Statue im wahrsten Sinne des Wortes von den Füßen auf den Kopf zu stellen, um zu symbolisieren: Mit unserer Erinnerungskultur an Hengsbach hat sich seit der letzten Woche Entscheidendes geändert. Es geht darum, dass man den einstmals verehrten Ruhr-Bischof jetzt in einem ganz anderen Licht, nämlich als mutmaßlichen, als wahrscheinlichen Täter sieht. Diesen Ansatz halte ich für den historisch, auch erinnerungskulturell mehr Sinn machenden. Ebenso wie die Protestaktion in der letzten Woche von Missbrauchsbetroffenen, die der Statue die Augen verbunden haben.
DOMRADIO.DE: Der Jesuitenpater Klaus Mertes hat sich zwar in einem Interview am Freitag für eine Entfernung der Hengsbach-Statue ausgesprochen. Er warnte gleichzeitig davor, dass das Abbauen von Denkmälern auch den Eindruck erwecken könne: "Mit dem haben wir nichts zu tun". Was muss denn Ihrer Meinung nach jetzt in Essen geschehen?
Bock: Zwei Schritte müssten geschehen. Zum ersten müsste gemeinsam mit den Betroffenen eruiert werden, wie es so weit kommen konnte. Wie konnte Hengsbach – mutmaßlich müssen wir sagen – Täter werden, Taten begehen, über die so lange geschwiegen wurde.
Und in diesen Eruierungs-Prozess sollten zuallererst die Betroffenen einbezogen werden, Historikerinnen und Historiker, Soziologinnen und Soziologen, Gläubige des Bistums, aber dann zum Schluss auch das Domkapitel. Und gemeinsam müsste dann meines Erachtens ein zweiter Schritt gegangen werden, dass man überlegt, wie kann man an Hengsbach erinnern. Also nach dem Eruieren der Taten, nach der Analyse der Taten zu überlegen, wie kann man diesem Menschen in all seinen Brechungen und Ambivalenzen, wahrscheinlich auch seiner Täterschaft, "gedenken"? Das meine ich jetzt bei weitem nicht positiv besetzt, sondern einfach historisch angemessen an ihn erinnern.
DOMRADIO.DE: Er hat ja einerseits auch seine Verdienste gehabt, unstreitig – nur wenn man jetzt natürlich anfängt, das eine gegen das andere aufzuwiegen, also ist sein Verhalten eines Denkmals wert oder nicht, das hat ja ein Geschmäckle. Wird man zum Beispiel den mutmaßlich Betroffenen dadurch gerecht? Wie könnten Sie sich vorstellen, wie man an diesen Bischof erinnert?
Bock: Das ist eine sehr gute Frage. Ich denke, eine einfache Antwort verbietet sich hier. Es muss eben in einem transparenten Kommunikations- und Dialogprozess geklärt werden, in dem alle der gerade Angeführten beteiligt werden, also wissenschaftliche Expertinnen und Experten, zuallererst Betroffene, aber auch Vertreter der Bistumsleitung, Vertreter der Gläubigen im Bistum Essen. Hier verbietet sich eine einfache, zu schnelle Antwort.
Ich habe vorhin gesagt, mein erster Impuls war auch, die Statue zu entfernen. Ich glaube aber, das macht erinnerungskulturell wenig Sinn. Man sollte sich jetzt die Zeit nehmen zu analysieren, im Dialog zu bleiben und dann gemeinsam so etwas wie eine gebrochene Erinnerungskultur kreieren. Auch wenn ich Ihnen jetzt im Moment nicht sagen kann, wie genau. Ich glaube, das wäre auch unseriös, eine allzu schnelle Antwort zu finden. Das würde meiner Meinung nach gegen die Pietät verstoßen, auch gerade, weil ich das Leid der Betroffenen ernstnehme.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist ja der Umgang mit dem Erbe von Bischöfen, die sich ihnen im Umgang mit sexualisierter Gewalt schuldig gemacht haben, sehr unterschiedlich. Es reicht von Hinweistafeln am Grab, wie zum Beispiel jetzt in der Krypta des Domes in Paderborn oder in Münster, bis hin zur Aufforderung, Bischöfe nicht mehr in ihren Kathedralkirchen beizusetzen. Hingegen gibt es in Paderborn immer noch den Kardinal-Degenhardt-Platz. Und auch hier in Köln gibt es den Kardinal-Höffner-Platz. – Was ist in der Debatte um Umbenennungen oder Entfernungen aus Ihrer Sicht am wichtigsten?
Bock: Am wichtigsten ist es, religionshistorisch einen Mechanismus zu verstehen. Bischöfe, gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach den Untaten, nach den Gräueltaten des Nationalsozialismus, konnten in besonderer Weise als sogenannte "viri dei" – Männer Gottes – reüssieren.
Das ist ein religionshistorisches Phänomen: Bischöfe wurden nach der "Hitler-Katastrophe" in besonderer Weise als Männer, denen eine wunderbare Gnadenkraft, eine heiligmäßige Ausstrahlung innewohnt, gesehen. Und es galt, ihre Nähe zu suchen. Das heißt, jemand wie Bischof Hengsbach, das machen sehr schön auch alte Fernsehaufnahmen deutlich, hat von sich selbst gesagt, er stehe für das Wahre, Heilige, Schöne, Gute.
Das ist die eine Seite, die andere Seite dieser Überhöhung, die nicht nur von den Bischöfen ausgeht, ist, dass ihnen das eben auch zugeschrieben wurde. Und bei Hengsbach in besonderer Weise, sowohl was die Kumpel unter Tage angeht, mit denen er ein Bier getrunken hat, als auch mit den Firmenbosse, mit denen er sich in Meetings an Verhandlungstischen getroffen hat.
Dieser Doppelmechanismus "Machtbeanspruchung", aber auch "Machtzuschreibung" durch die Gläubigen, durch andere Kleriker, durch die Öffentlichkeit, ging, wie wir jetzt wissen, offenkundig nicht nur in diesem Fall zulasten von Minderjährigen oder jungen Erwachsenen. Und diesen Mechanismus gilt es aufzuklären und diesen Mechanismus erinnerungskulturell auch zu manifestieren. Das heißt, wie man so etwas gestaltet, ist zu klären. Es ist keine einfache Aufgabe, aber ich bin zuversichtlich, dass das dem Bistum Essen mit seiner unabhängigen Aufarbeitungskommission, wie man jetzt lesen kann, gelingen wird.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.