DOMRADIO.DE: Ist diese Entscheidung des Nobelpreiskomitees für Sie eine Überraschung?
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte Universität Wien): Es ist einerseits eine Überraschung. Ich hatte nicht damit gerechnet. Andererseits ist es absolut großartig, weil Fosse eine Kunst der Wirklichkeitsverdichtung in Sprache zustande bringt, die man sonst eigentlich nur von Peter Handke kennt. Ich habe mich wirklich gefreut, als ich das gehört habe.
DOMRADIO.DE: 2013 ist Fosse zum Katholizismus übergetreten. Er hat einen durchaus abenteuerlichen Glaubensweg zurückgelegt. Vom Protestantismus ist er zunächst zu den Quäkern gegangen, dann zur katholischen Kirche. Was hat ihn dazu bewogen?
Tück: Ich bin kein Kenner der Biografie Fosses. Aber ich weiß, dass seine Frau, die Katholikin war und die auch eine besondere Ikonenfrömmigkeit pflegte und auch eine marianische Spiritualität hatte, ihn offensichtlich mit dazu bewegt hat, zur katholischen Kirche überzutreten. Man spürt auch zumindest in dem, was ich gelesen habe, eine katholische Welthaltung, die unaufgeregt, gelassen, die Dinge in der Welt in die Sprache kommen lässt.
DOMRADIO.DE: Was macht eine katholische Welthaltung aus? Ist das die intensive Beschäftigung mit Meister Eckhart, was diese katholische Welthaltung ausmacht?
Tück: Meister Eckhart steht natürlich für den mystischen Zug, der sich auch in der Prosa findet. Wenn überhaupt das Göttliche eingeflochten wird, dann weniger als der Gott über uns oder der Gott neben uns, sondern vielmehr der Gott in uns. In der Sprachbewegung ist es dieser Duktus des Rhythmus', des Atmens.
Der Roman "Ich ist ein anderer" kennt keine Interpunktion. Es gibt keine Sätze mit einem Punkt. Es geht so weiter. Wie das Atmen lebensnotwendig ist, so ist die Schreibbewegung auch eine nicht endende. In diese Schreibbewegung werden dann zum Beispiel auch lateinische Gebete wie das Paternoster oder das Ave Maria eingeflochten. Wenn man sich auf diese verlangsamende Sprachbewegung einlässt, kommt man fast in eine Gebetsatmosphäre.
DOMRADIO.DE: Haben Sie dafür vielleicht ein Beispiel, vielleicht sogar ein Zitat aus seinem Werk?
Tück: Ich kenne vor allem den zweiten Band aus der Heptalogie, weil wir mit Ulrich Greiner beim Theologischen Terzett in der Katholischen Akademie Bayern darüber gesprochen haben. "Ich ist ein anderer" ist er überschrieben. Das ist ein Anklang an Rimbaud. Das klingt zunächst einmal so, dass hier die Andersartigkeit gegenüber den anderen deutlich gemacht wird, die Autonomie herausgestrichen wird.
Oder man kann es auch ganz anders lesen, dass der Status des Ich prekär ist, dass er gebrochen ist. Nicht ich schreibe, es schreibt in mir.
Ich glaube, in diesem zweiten Sinne ist Fosse zu verstehen. In dem Roman gibt es einen leeren Sessel, der die Anwesenheit der Abwesenden toten Frau markiert.
Hier gibt es ein wunderbares Gespräch zwischen den beiden Engeln, zwischen Ales und Asle. So heißen die Protagonisten. Es sind also auch Variationen. Hier sind in diesem kurzen Stück schon grundlegende Figuren enthalten, dass die Nähe immer zugleich mit einem Index der Entzogenheit versehen wird.
Das Nahe und das Ferne, das An- und das Abwesende sind irgendwo da. Indem er die Sprachbewegung mitvollzieht, bekommt man eine Ahnung von der verborgenen Präsenz dessen, der jetzt alles zusammenhält. Dadurch kommt eine gewisse mystische Tönung in diesen Roman "Ich ist ein anderer".
DOMRADIO.DE: Was bedeutet es, dass hier ein Autor ausgezeichnet wird, für den das Religiöse in unserer säkular geprägten Welt so eine wichtige Rolle spielt?
Tück: Es ist ein Anzeichen dafür, dass die kulturelle Präsenz von Religion säkularisierungsresistent ist. Ein Autor wie Jon Fosse geht mit religiösen Themen nicht hausieren. Aber in seinem Werk – ähnlich wie bei Peter Handke – gibt es eine durchgängige Präsenz religiöser Themen. Wer eine Antenne dafür hat, kann das überall entdecken.
Das ist vielleicht auch eine Provokation an die Literaturkritik, deren Sinn für die Präsenz solcher Motive doch etwas stumpf geworden ist. Insofern ist die Entscheidung des Nobelpreiskomitees zu begrüßen.
Das Interview führte Johannes Schröer.