Warum Edith Stein eine unbequeme Heilige ist

Märtyrerin für wen?

Edith Stein gilt als Brückenbauerin zwischen Christen und Juden. Hat aber ihre Heiligsprechung vor 25 Jahren dem jüdisch-christlichen Dialog geschadet? Kirchenhistoriker Elias Füllenbach wirbt für einen differenzierten Blick.

Porträt von Edith Stein im Jahr 1936 in Breslau (KNA)
Porträt von Edith Stein im Jahr 1936 in Breslau / ( KNA )

DOMRADIO.DE: War Edith Stein eine Jüdin oder eine Christin?

Pater Elias H. Füllenbach (Bistum Regensburg)

Pater Elias Füllenbach OP (Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit): Edith Stein war beides. Sie stammt aus einem sehr traditionellen jüdischen Elternhaus, hat sich aber schon als Jugendliche – wie sie dann einmal gesagt hat – das Beten selbst abgewöhnt. Sie wurde zunehmend als Jugendliche und junge Erwachsene zu einer Atheistin, die aber Zeit ihres Lebens eine Suchende blieb.

Während des Ersten Weltkriegs sind einige Dinge passiert, die sie sehr ins Grübeln gebracht haben. Und das war nach und nach ihr Weg zur Taufe. Papst Johannes Paul II. hat es mal ganz gut ausgedrückt: Sie habe durch ihre Konversion dem Judentum nicht abgeschworen, sie habe durch die Taufe ihre jüdischen Wurzeln erst wiederentdeckt.

DOMRADIO.DE: Sie ist allerdings nicht für ihren christlichen Glauben von den Nationalsozialisten ermordet worden, sondern wegen ihrer jüdischen Wurzeln. Warum wird sie als Märtyrerin verehrt?

Elias Füllenbach

"Sie hat ihren Tod oder ihr Leiden selbst sehr christlich gedeutet."

Füllenbach: Da gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist Edith Stein in den Niederlanden verhaftet worden, weil dort die katholischen Bischöfe gegen die Juden-Deportationen protestiert haben. Das war so etwas wie eine Racheaktion der Nationalsozialisten.

Aber ich glaube – und das ist noch entscheidender –, dass sie selbst ihren Tod oder ihr Leiden so gedeutet hat. Sie hat sich in dem kleinen Ort Echt, wo sie sich versteckt hatte, sehr mit der Kreuzestheologie beschäftigt und hat dann in ihren Schriften immer wieder gesagt, der Mensch, der Jesus folgt, trägt die Wundmale Jesu am eigenen Leib. Da spielt auch die damalige Sühnetheologie eine Rolle. Sie hat ihren Tod oder ihr Leiden selbst sehr christlich gedeutet.

DOMRADIO.DE: Edith Stein soll bei ihrer Deportation zu ihrer Schwester gesagt haben: 'Komm, wir gehen für unser Volk.' Wie ist diese Aussage zu deuten?

Füllenbach: Man kann diese Aussage sehr unterschiedlich deuten. Normalerweise wird sie im Sinne des jüdischen Volkes verstanden. Aber sie hatte vor ihrer Verhaftung noch Gespräche mit einem Bekannten, dem Jesuitenpater Johannes Hirschmann. Und der sagte später mal, dass sie in diesen Gesprächen immer wieder gefragt hätte, wer denn die Sühne für die Verbrechen des deutschen Volkes leistet.

Man kann den Satz auch so deuten, dass sie für das deutsche Volk gehen, das diese Verbrechen auf sich geladen hat. Hirschmann berichtet, dass Edith Stein sich auch gefragt hat, wie es denn sein kann, dass getaufte Christen solche Verbrechen begehen und dass sie dafür Sühne leisten oder dem etwas entgegensetzen wollte. Man kann es nicht ganz auflösen, aber das ist ein spannender Satz. Ich glaube, diese Ambivalenz gehört auch zur Figur von Edith Stein.

DOMRADIO.DE: Die verstorbene Theologin Uta Ranke-Heinemann hat Edith Stein als 'verirrtes und verwirrtes Opfer, zwei Jahrtausende alter katholischer antijudaistischer Demagogik' bezeichnet und bezieht sich damit auf eine angebliche Aussage Steins über die Reichspogromnacht, diese sei 'die Erfüllung des Fluches, die mein Volk auf sich herab gerufen hat'. Ist die Heilige eine Vertreterin einer Lehre, die die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil dann verworfen hat?

Elias Füllenbach

"Es gibt bei Edith Stein keine klare Antworten."

Füllenbach: Ja und nein. Es gibt bei Edith Stein keine klare Antworten. Sie hat beispielsweise 1939 in ihr Testament geschrieben, dass sie Sühne leisten wolle für den Unglauben des jüdischen Volkes. Und dann sieht man, dass sie durch ihre Taufe hineingenommen wird in diese antijüdische Tradition des Christentums. Es gibt entsprechende Aussagen von ihr. Aber es gibt auf der anderen Seite auch bemerkenswert positive Aussagen von ihr zum Judentum.

Es ist auffällig, dass Edith Stein davon überzeugt war, dass ihre Mutter, die Zeit ihres Lebens am jüdischen Glauben festgehalten hat, im Himmel ist und für sie betet. Das wäre nach damaliger katholischer Vorstellung gar nicht möglich gewesen.

Originale Handschriften der Wissenschaftlerin Edith Stein. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Originale Handschriften der Wissenschaftlerin Edith Stein. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Sie verkörpert Anteile der antijüdischen Tradition, aber sie setzt sich auch sehr mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander und übersetzt zum Beispiel in Echt einen Text eines Jesuiten, der sehr positive Aussagen zum Judentum enthält und betont, dass auch Jesus Jude war.

Sie ist sicherlich keine Vorreiterin des christlich-jüdischen Dialogs gewesen, aber sie entdeckt ihre jüdischen Wurzeln neu und hat auch ein durchaus positives Verhältnis zum Judentum.

DOMRADIO.DE: Edith Stein gilt als Brückenbauerin zwischen Christen und Juden. Ist ihre Heiligsprechung vor 25 Jahren und die Verehrung als Märtyrerin der Kirche mehr hinderlich oder mehr förderlich für das Verhältnis zwischen Juden und Christen?

Elias Füllenbach

"Es gab Diskussionen darüber, ob diese Heiligsprechung eine Vereinnahmung der jüdischen Opfer von katholischer Seite sei."

Füllenbach: Es kommt darauf an, wie wir an Edith Stein erinnern. Ich war damals bei der Heiligsprechung in Rom mit dabei und es gab im Hintergrund manche Diskussionen darüber, ob diese Heiligsprechung eine Vereinnahmung der jüdischen Opfer von katholischer Seite sei. Das hat auch mit Konflikten zu tun, die es vorher gegeben hat.

In den 80er Jahren gab es einen Karmelkonvent, der ausgerechnet in dem Gebäude untergebracht war, in dem auch das Zyklon B für die Vergasungen gelagert wurde. Deswegen hat es in Polen viele Auseinandersetzungen gegeben. Von jüdischer Seite gab es die Sorge, dass die nationalsolzialistischen Verbrechen christlicherseits umgedeutet werden.

Ich denke schon, dass Edith Stein durchaus eine Brückenbauerin sein kann, wenn deutlich gemacht wird, dass ihr Martyrium ein besonderes ist. Man sieht das auch bei Maximilian Kolbe, der ebenfalls in Auschwitz ermordet wurde. Da gibt es eine Veränderung des katholischen Verständnisses von Martyrium. Auch Kolbe ist nicht einfach wegen seines christlichen Glaubens umgebracht worden, sondern weil er stellvertretend für einen Familienvater in den Tod gegangen ist. Man könnte es ein Martyrium caritatis nennen.

Bei Edith Stein ist es offenbar ähnlich. Sie will solidarisch mit ihrem jüdischen Volk diesen Weg gehen, aber tatsächlich war es den Tätern in Auschwitz völlig egal, ob sie getauft war oder nicht. Und deswegen halte ich es für sehr wichtig, dass wir sensibel mit ihrem Erbe umgehen. Es wird immer die Frage dazugehören, wie wir sie feiern und wie wir an sie erinnen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

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Turm der St. Matthiaskirche in Berlin (shutterstock)
Quelle:
DR