Mehmet Can ist tief erschüttert, das ist seiner Stimme anzuhören. Der Geschichts- und Politiklehrer unterrichtet am Campus Rütli in Neukölln, einer Gemeinschaftsschule, an denen die meisten Kinder einen muslimisch-arabischen Hintergrund haben. Die Schule ist bekannt für ihr innovatives Konzept, das aus der Problemschule ein Erfolgsmodell machte: Es gibt eine Stunde "Glauben und Zweifeln", Arabischunterricht, einen Kurs, der sich mit Israel und Palästina beschäftigt - und Fahrten nach Israel und die Palästinensischen Gebiete, die Can mitorganisiert. Die nächste war für November geplant. Es ist unklar, ob sie aufgrund des Krieges stattfinden kann.
Rütli-Schule kennt den Nahost-Konflikt
An der Rütli Schule ist man mit dem Nahost-Konflikt vertraut; bereits am Montag gab es vor dem Unterricht eine außerordentliche Dienstbesprechung, wie mit dem aktuellen Angriff der radikalislamischen Hamas umzugehen sei. "Der ist bei meinen Schülern omnipräsent", sagt Can. Im Gegensatz etwa zu einem Gymnasium im Osten Berlins - dort hätten im Geschichtsleistungskurs am Montag nur zwei Jugendliche von der Eskalation gehört, wie ihm eine Kollegin erzählt habe.
Laut Bundeselternrat bereiten sich die Schulen bundesweit auf Konflikte als Reaktion auf den Angriff auf Israel vor. So werde etwa in Thüringen, das am Montag nach den Herbstferien wieder in den Unterricht startet, vom Bildungsministerium eine Handreichung und ein Leitfaden für Lehrer vorbereitet, sagt die Vorsitzende des Verbandes, Christiane Gotte. In dem Bundesland leben zahlreiche jüdische Ukrainer, die wegen des russischen Angriffskriegs nach Deutschland geflohen sind.
Comic nach Israelreise
Lehrer Can, der kürzlich gemeinsam mit den Rütli-Schülerinnen und Schülern den Comic "Mehr als 2 Seiten" zu einer gemeinsam unternommenen Israelreise herausgab, beschreibt, wie er den Unterricht seit dem Angriff erlebt: "Frustration und Hoffnung liegen nur eine Schulstunde voneinander entfernt." Seine zehnte Klasse zum Beispiel habe ihn schockiert: Da rechtfertigten viele den Angriff "als Rache für die vermeintlichen Verbrechen der Israelis".
Dies sei leider das Narrativ, das seine Schüler in den Sozialen Medien und in arabischsprachigen TV-Sendungen hörten, sagt Can. Manchmal geschehe das auch subtil: "Zum Beispiel gibt es eine arabische Influencerin, die Kochrezepte promotet und nach dem Angriff der Hamas Lebensmittel mit Palästina-Fahnen verteilte, um die Attacke zu feiern." Andere Schüler glaubten die Nachrichten von den Gräueltaten nicht. "Sie glauben, dass sind 'Fake News', weil das nicht mit ihrem Bild vom Islam übereinstimmt."
Was verteidigt man, wenn man 200 Feiernde ermordet?
Anderes habe ihm aber auch Hoffnung gemacht, sagt der Lehrer. In seinem Leistungskurs Geschichte sei kontrovers, aber sachlich diskutiert worden. "Und als einer das Massaker als Verteidigung Palästinas verklären wollte, entgegnete ein anderer, was man denn verteidige, wenn man über 200 Besucher eines Musikfestivals ermorde."
Ähnliche Erfahrungen hat der Duisburger Theaterpädagoge Burak Yilmaz gemacht. Auch er empfindet die Stimmung als aufgeheizt. In seinen Gesprächen und Chats mit muslimischen Jugendlichen seien Wut auf Israel, aber auch Scham über den Angriff zu spüren. Er forderte eine offene Debatte über Islamismus. "Es ist widerlich, wenn selbst ernannte Imame im Internet dazu aufrufen, das Massaker zu feiern, sonst sei man kein echter Muslim. Die muslimische Identität wird damit an diesen Konflikt gekoppelt. Wir dürfen dem Islamismus nicht das Feld überlassen."
Palästinenser ist nicht gleich Hamas
Allein der Todeskult der Hamas, die Glorifizierung des Terrors, zeige, dass sie nicht im Sinne der Rechte der Palästinenser handele, mahnt Yilmaz. "Palästinenser wollen leben. Der Terror der Hamas richtet sich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Da muss man immer wieder aufklären, dass Hamas nicht gleich Palästinenser bedeutet."
Der Pädagoge geht an Schulen und versucht in Sozialen Netzwerken, den Bildern und Parolen etwas entgegenzusetzen. "Wenn ich 14 wäre und auf diesen Kanälen abhängen würde, würde mich das sehr in den Bann ziehen", räumt er ein. "Wir müssen auch digital gegen Islamismus kämpfen." Es sei ein großes Problem, dass die Jugendlichen über Freunde oder die Familie kaum andere Perspektiven kennenlernten.
Yilmaz hatte genug
Die jüdische zum Beispiel: Yilmaz etwa, der als junger Mann von antisemitischen Sprüchen muslimischer Jugendlicher in Deutschland irgendwann genug hatte, organisierte mit ihnen Fahrten nach Auschwitz und schrieb darüber jüngst ein Buch. Dadurch hat er gute Kontakte in die jüdische Gemeinde, jüdische Freunde. "Ich habe mit ihnen telefoniert, sie sind sehr in Sorge um ihre Familien", sagt der 35-Jährige.
Auch an einer Berliner Grundschule in einem eher bürgerlichen Viertel ist der Konflikt Thema, wie die neunjährige Marie berichtet. Eine Freundin ist Jüdin und hat Verwandte in Israel. "Sie hat geweint, sie hat Angst um ihre Cousine", erzählte Marie ihrer Mutter. Die Lehrerin habe den Konflikt deshalb im Unterricht thematisiert.
Religionsunterschiede bei Schülern
Dass es Probleme zwischen Schülern unterschiedlicher Religionen schon länger gibt, weiß auch Cahit Basar, Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde Deutschland und Politiklehrer an einem Kölner Gymnasium. "Während einige ihre Religion wie ein Werbeplakat vor sich hertragen, verstecken andere ihre Identität aus Angst vor Ausgrenzung", sagt er. "Es kommt vor, dass Eltern jüdischer oder alevitischer Kinder nicht wollen, dass in den Schulen bekannt wird, dass sie Juden oder Aleviten sind - aus Angst vor Konflikten mit muslimischen Mitschülern".
Lehrer Can, selbst türkischstämmig, will sich weiter dafür engagieren, den Jugendlichen Gegenstimmen aufzuzeigen, damit sie sich ein fundiertes Urteil bilden können - "auch wenn es nur in kleinen Schritten geht. Es sind Jugendliche, denen gestehe ich zu, solche Sachen zu äußern - so schwer es manchmal zu ertragen ist. Bei Erwachsenen bin ich nicht so nachsichtig", stellt der 42-Jährige klar.
Rütli veranstaltet Schweigeminute
Die Lehrer des Campus Rütli boten am vergangenen Montag eine Schweigeminute an - in der sowohl der Toten des Massakers als auch der Zivilisten auf palästinensischer Seite gedacht wurde. Sie setzen auf die Empathie der Schüler: "Der Angriff am Wochenende war ein unvorstellbar brutaler Pogrom. In dieser aufgeheizten Stimmung dringen wir mit Sachargumenten aber nicht durch. Wir müssen auf die grundlegenden Tatsachen reduzieren: dass die Hamas israelische Zivilisten - Männer, Frauen, Kinder und Babys - ermordet hat", so Can.