Leere Straßen, geschlossene Geschäfte. Nur hier und dort bellt ein Hund. Die südisraelische Stadt Sderot gleicht einer Geisterstadt. Schon bevor die Behörden am 15. Oktober dazu aufriefen, verließen viele Bewohner den Ort.
15 Sekunden hat man hier, vom Ertönen der Warnsirene bis zum potenziellen Einschlag einer Rakete aus dem Gazastreifen. Auch deshalb wird Sderot "Hauptstadt der Bunker" genannt.
330 Mal ertönten die Sirenen seit Beginn des Nahost-Kriegs am 7. Oktober. Doch nicht jeder der 30.000 Menschen konnte oder wollte gehen.
1.200 Meter Luftlinie sind es an der engsten Stelle zwischen Sderot und der Grenzanlage zum Gazastreifen. "Givat Kobi", Kobi-Hügel, heißt der Aussichtspunkt an der Stadtgrenze.
"Dieser eine Schabbat" war ein Wendepunkt
2014 erlangte die Anhöhe mit dem weiten Blick über Feindesland zweifelhaften Ruhm. Damals machten Bilder von Israelis die Runde, die von hier aus auf ausrangierten Sofas mit Bier und Snacks die israelischen Luftangriffe auf Gaza beobachteten. Diesmal pfeift die Armee jeden zurück, der sich dem Hügel nähert.
"Zu gefährlich", sagt Dani Levi. "Wer von dort Gaza sieht, wird auch von Gaza aus gesehen."
Der orthodoxe Jude lebt sei 25 Jahren in Sderot, hat als Freiwilliger den örtlichen Ableger des Rettungsdienstes "Zaka" mitaufgebaut, dessen Dienst vor allem im Bergen von Unfall- und Terroropfern besteht. Levi hat schon viel erlebt.
"Aber dieser eine Schabbat war anders", beschreibt er die jüngste Angriffswelle der Terrororganisation Hamas.
Diese Geschichte "ein für alle Mal zu Ende bringen"?
Am Tag nach dem "schwarzen Schabbat" seien sie mit ihren acht Kindern nach Jerusalem geflüchtet, wie alle, die sie kennen. Jetzt sind sie "für ein paar Stunden zurückgekommen, um ein paar Dinge zu organisieren".
Dauerhaft zurückkehren nach Sderot wollen sie erst, "wenn Hamas zerstört und es hier sicher ist".
Wenn er der Welt eine Botschaft senden könnte? "Lasst uns in Ruhe und diese Geschichte ein für alle Mal zu Ende bringen, haltet uns nicht auf!" Was mit den Menschen in Gaza passiert? "Interessiert mich nicht, diese Nazis sind unsere Feinde."
Levi war als Retter im Einsatz in Re'im, dem etwas weiter südlich gelegenen Kibbuz, wo die Terroristen ein Massaker mit mindestens 260 toten Festivalbesuchern verübten.
Knapp 2.500 Menschen leben hier noch
Wie viele Menschen dem Aufruf der Behörden zur Evakuierung nicht gefolgt sind, ist schwer zu sagen. Ein paar einzelne, sagen die israelischen Einsatzkräfte, die die Zufahrtsstraßen nach Sderot sichern.
Mindestens 20 Prozent der Einwohner, meint ein ortskundiger Kameramann eines TV-Senders. Die Stadt gibt die Zahl mit 2.500 an.
Wladimir Krajderman ist einer von ihnen. "Warum soll ich hier weg?", fragt der 65-Jährige und zieht eine Mundharmonika aus der Tasche.
Kaum mehr als 25 Quadratmeter Grundfläche hat sein einstöckiges Häuschen. Früher scheint es ein Minimarkt oder eine kleine Bar gewesen zu sein, mit Fenstern zur Straße, auf den Bänken Splitter früherer Raketen.
Raucherpause zum Sirenenklang
Ein denkbar schlechter Ort für den sehr wahrscheinlichen Fall eines weiteren Alarms. Krajderman zuckt unbeeindruckt mit den Achseln und lacht.
An der Garderobe über seinem Bett hängt eine rote Trainingsjacke mit Hammer und Sichel und den kyrillischen Buchstaben "CCCP", UdSSR. "Wenn die Sirene ertönt, rauche ich eine, was soll ich denn sonst machen?", sagt er.
Dann hebt er beide Arme und gestikuliert: So seien die Raketen in den ersten Tagen seit dem 7. Oktober über die Stadt geflogen. Er zeigt in alle möglichen Richtungen, überall habe es Treffer gegeben.
Als es losging, erzählt er, habe er mit einem Bier draußen gesessen, etwas weiter in der Innenstadt. Dann seien die Soldaten gekommen und hätten ihn weggeschickt.
Viel Hilfe aus Jerusalem
Fast klingt es verärgert. "Ich war Soldat an der russisch-chinesischen Grenze. Ich habe keine Angst, ich weiß nicht, wie man flieht."
Dass es zwei Tage lang keinen Strom gab, weil eine Rakete einen Strommast traf, ärgere ihn. "Da kannst Du gleich alles wegschmeißen, was im Kühlschrank war."
An Hilfe mangele es ihm aber nicht. Aus Jerusalem seien sie gekommen, mit Kisten voller Lebensmittel, kiloweise Äpfel und Kartoffeln zum Beispiel, "so viel, dass ich es nicht allein nutzen kann". Und Katzenfutter für die Straßenkatzen - "die wollen ja auch leben".
Das Haus gegenüber mit der Nummer 54 ist ebenfalls noch bewohnt. Hier lebt eine Mutter mit ihren drei kleinen Töchtern und einem kranken Bruder, wie ein paar Freiwillige mit armeegrünen schusssicheren Westen erzählen. Gerade haben sie dort einige Stromleitungen repariert.
Nicht jeder kann sich die Flucht leisten
Anders als beim furchtlosen Nachbarn fehle der Mutter das nötige Geld, um Sderot zu verlassen, erläutern die Helfer. Dann eilen sie zum nächsten Bedürftigen. Bis zum späten Nachmittag wollen sie wieder raus aus der Gefahrenzone.
Wladimir Krajderman scherzt derweil über die Straße hinweg mit den Kindern aus Nummer 54. Auch die Erdnussflips und andere Süßigkeiten aus den Hilfspaketen gibt er gern weiter.
Für sich kocht er derweil Apfelkompott und füttert die Vögel der Nachbarin. "Mich interessieren meine Nachbarn. Mein Leben ist hier", sagt er. Als der nächste Raketenalarm über seinem Haus ertönt, stellt er sich gelassen in die Haustür und raucht.