DOMRADIO.DE: Sie üben Kritik an der Stellungnahme des Rates, dem Sie selbst angehören. Warum?
Thomas Rachel (Mitglied des Bundesrates, Bundestagsabgeordneter der CDU und Mitglied des Rates der EKD, Sprecher für Kirchen und Religionsgemeinschaften der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU und Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland): Ich habe bereits in der Sitzung des Rates meine kritischen Gedanken und meine Nachdenklichkeit formuliert und auch gestern auf der Synode. Ich glaube, wir müssen sehr genau überlegen, ob wir eine existierende gesetzliche Regelung, die beide Grundrechtsträger, nämlich die Mutter und das ungeborene Leben, miteinander in Beziehung gebracht hat – und das garantiert die jetzige gesetzliche Regelung – ohne Not aufkündigen.
Ich glaube, das ist kein kluger Gedanke, denn die jetzige Regelung unterscheidet sich ganz wesentlich von den meisten Regelungen, die es in anderen Ländern gibt. Sie nimmt den Lebensschutz sehr ernst und versucht es trotzdem mit der ganz konkreten Situation der betroffenen Mutter in Beziehung zu bringen, auch noch mit einer Beratungshilfe.
DOMRADIO.DE: Die jetzige Regelung sieht vor, dass Schwangerschaftsabbrüche verboten bleiben, aber nach Einhaltung einer Frist und einem Beratungsgespräch straffrei sind. Ist es da nicht ehrlicher, das Verbot generell aufzuheben und Frauen in Not so zu entkriminalisieren?
Rachel: Es geht dabei insgesamt um die Frage, was unsere Gesellschaft und auch die Rechtsordnung denkt. Das Ziel unserer Gesellschaft muss grundsätzlich sein, dass das ungeborene Leben eine Chance auf Leben hat. Das sehe ich als Christdemokrat ganz deutlich. Das ist etwas, was uns alle beschäftigen muss.
Es muss eigentlich darum gehen, was wir zusätzlich zur jetzigen gesetzlichen befriedigenden Lösung, die wir vor vielen Jahren gefunden haben, tun können, um die Rahmenbedingungen in der Gesellschaft zu verbessern, damit betroffene Paare oder auch Mütter sich schlussendlich für das Kind entscheiden können. Wie können wir so viele Unterstützung und Begleitung anzubieten, dass möglichst oft eine Entscheidung für das heranwachsende Kind getroffen wird?
DOMRADIO.DE: Normalerweise sind konservative Stimmen in der Synode eher zurückhaltend. Sie waren aber nicht der einzige, der die Positionierung des EKD-Rates kritisiert hat. Haben Sie mit einem solchen Widerspruch gegen den Vorschlag der EKD, dem sich im Vorfeld auch Margot Käßmann angeschlossen hat, gerechnet?
Rachel: Ich habe durch viele Gespräche gespürt – ich bin ja im ganzen Lande unterwegs –, dass dieses Thema die Menschen sehr beschäftigt und dass es unterschiedliche Meinungen dazu gibt. Das ist auf der Synode ebenfalls deutlich geworden.
Wir haben ein breites Meinungsspektrum, auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland, zu diesem Thema und es bewegt die Menschen sehr. Was können wir dafür tun, dass das ungeborene Leben eine Chance hat und wir gleichzeitig eine Frau und Mutter in einer Dilemma-Situation ernst nehmen, ihr möglichst einen geschützten Freiraum in der Beratungssituation geben, um alles noch mal in Ruhe zu durchdenken, Hilfsangebote anzubieten. Schlussendlich wird die Mutter am Ende entscheiden und das ist auch richtig so.
Aber Sie sehen, es ist ein ganzheitliches Konzept, was aber den Schutzgedanken als Teil dieses Konzepts hat. Es ist insofern ein wertschätzendes Konzept, das man nicht einfach beiseiteschieben sollte. Denn meine Meinung ist, dass die Kirche an der Seite der Schwächsten stehen sollte. So formulieren wir das ja auch ganz oft. Das muss bei diesem Thema natürlich auch deutlich und sichtbar werden.
DOMRADIO.DE: Beim Thema Abtreibung sind von den beiden großen Kirchen nicht einmal mehr Vertreter in die vorbereitende Kommission der Bundesregierung entsandt worden. Ist das ein weiteres Anzeichen für den Bedeutungsverlust der Kirchen in unserer Gesellschaft?
Rachel: Es ist auf jeden Fall ein klares Zeichen, dass die Ampelkoalition in der Bundesregierung auf die Sicht, im Übrigen auch auf die Erfahrungen von Pfarrerinnen und Pfarrern, von Priestern, von Seelsorgerinnen, von diakonischen und caritativen Einrichtungen offensichtlich nicht mehr sehr viel Wert legt.
Das bedaure ich außerordentlich. Denn es sind doch gerade die Frauen und Männer, die sich in diesen kirchlichen und diakonischen Einrichtungen um Menschen in solchen existenziellen Lebenssituationen kümmern. Diese Sichtweise nicht von vornherein mit einzubeziehen, halte ich für einen groben politischen Fehler der Ampelkoalition.
Das zeigt, dass sie Fragen, die auch durch Glaubensüberzeugungen oder generell durch Christinnen und Christen geprägt sind, nicht die Rolle beimessen, die ihnen meines Erachtens zukommen sollten.
DOMRADIO.DE: Wenn sich die EKD-Synode dem Papier des Rates der EKD anschließen sollte, könnte das auch ein weiteres Hindernis im Bereich der Ökumene sein. Die evangelische Kirche ist schon aus der Woche für das Leben ausgestiegen. Sehen Sie hier einen Zusammenhang zu dieser Abtreibungsfrage?
Rachel: Ich bedauere das sehr. Wir wären alle gut beraten, wenn wir uns in den zentralen wesentlichen Lebensfragen als evangelische und katholische Kirche um möglichst viel Gemeinsamkeit bemühen und nicht getrennte Wege gehen. Das schwächt letztlich unsere gemeinsamen Anliegen.
Ich werbe sehr dafür, dass wir im Gegenteil viel mehr als evangelische und katholische Kirche aufeinander zugehen und versuchen, Gemeinsames herauszuarbeiten, um diesen Themen auch Aufmerksamkeit und Gewicht in unserer Gesellschaft zu geben.
DOMRADIO.DE: Nun tagt die EKD Synode noch. Wird dieser Vorschlag verabschiedet werden? Wie schätzen Sie das ein?
Rachel: Das kann man jetzt noch nicht abschließend sagen, weil im Mittelpunkt dieser Tagung eigentlich andere Fragen stehen, auch Glaubensfragen genereller Natur. Es war sicherlich besonders, dass in der Aussprache, die wir am Beginn der Synode gehabt haben, sich dieses Thema seinen eigenen Platz gesucht hat, indem es eine sehr viel größere Zeit der Diskussion, auch der kontroversen Diskussion, eingefordert hat.
Ich finde es richtig gut, dass auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland über die Fragen des Lebensschutzes, über die Dilemmata-Situationen von Paaren und Müttern ausführlich differenziert gesprochen worden ist, in einer wertschätzenden Art, trotz der unterschiedlichen Gesichtspunkte. Dass wir über die existenziellen Fragen des Lebens so ringen, ist ein gutes Zeichen. Es tut gut zu erleben, dass wir diese Themen genauso ernst nehmen.
Das Interview führte Johannes Schröer.