Irgendwann kommen Susanne Müller die Tränen. Sie fischt ein Taschentuch aus der Box der Schuldnerberaterin. Eineinhalb Stunden lang legt Müller detailliert ihre finanzielle Lage offen, Fixkosten, Ausgaben, Einkommen, Unterhalt für ihre beiden Kinder. Sie erzählt, warum sie vor zehn Jahren einen Kredit aufnahm. Dass sie den Betrag mehrfach aufgestockt habe, wenn das Geld nicht reichte. Von mehreren Umschuldungen auf Anraten der Bank.
Inzwischen schnürt der Kredit sie in ein enges Korsett. Sie zahle vor allem die hohen Zinsen, der Schuldenberg selbst schrumpfe nicht. In manchen Monaten habe sie schon am 3. kein Geld mehr und müsse zwei Wochen lang mit 40 Euro auskommen, erzählt sie.
Privatinsolvenz legt die Karten offen
Eine Privatinsolvenz könnte ihr langfristig helfen, schuldenfrei zu leben. Doch von einem Insolvenzverfahren würde Müllers Arbeitgeber erfahren und auch ihre Vermieter, erklärt Juristin Anika Wegner von der Caritas Schuldnerberatung in Trier. Für Müller eine Alptraumvorstellung, die sie weinen lässt. "Ich will das Gesicht wahren", sagt sie. Dass sie das Gefühl habe, versagt zu haben. Sie sitzt leicht zusammengesunken auf dem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt.
Müller ist knapp 40, unauffällig ordentlich gekleidet mit Jeans, Turnschuhen und Pulli; sie arbeitet im öffentlichen Dienst, zahlt ihre Miete pünktlich. Um sie vor ihren Freunden und Kollegen nicht bloßzustellen, heißt sie in diesem Text anders. Denn von ihren Sorgen weiß in ihrem persönlichen Umfeld kaum jemand.
Angst nehmen
Wegner wirft in der Beratung mit Müller einen sachlichen Blick auf deren Finanzlage. Die Expertin berechnet, wie viel von Müllers Einkommen nach Abzug aller Kosten übrig bleibt. Und rechnet vor, dass sie der Bank aufgrund der Zinsen nicht wie angenommen 36.000, sondern rund 56.000 Euro schuldet. Die Beraterin spricht Handlungsmöglichkeiten an, fragt nach Zielen, stellt Vor- und Nachteile eines Insolvenzverfahrens vor und versucht, die Angst davor zu nehmen.
Bei einem Insolvenzverfahren geht drei Jahre lang ein festgelegter Teil des Einkommens an einen Insolvenzverwalter. Danach können Betroffene neu starten. Knapp 100.000 Privatinsolvenzen gab es zuletzt pro Jahr in Deutschland.
Durchschnittlich 30.000 Euro Schulden
Hauptgründe für eine Überschuldung sind laut Statistischem Bundesamt Arbeitslosigkeit, Krankheit, "unwirtschaftliche Haushaltsführung" und eine Trennung. Die Statistik berücksichtigt Angaben von Schuldnerberatungsstellen und dort beratenen Personen. 2022 hatte ein Überschuldeter im Durchschnitt 30.940 Euro Schulden – bei einem Monatseinkommen von durchschnittlich 1.189 Euro.
Laut dem Schuldneratlas von Creditreform waren zuletzt mit 5,65 Millionen Bürger so wenige Menschen in Deutschland überschuldet wie lange nicht. Die Zahl sei aber trügerisch, denn aufgrund neuer Datenschutz-Vorgaben würden Insolvenzverfahren nun deutlich früher aus der Datenbank gelöscht.
Überschuldungsgefahr könnte zunehmen
Ohne die Änderung wäre die Zahl in diesem erstmals seit 2019 gestiegen, um etwa 17.000 Fälle. Die Autoren rechnen zudem damit, "dass die Überschuldungsgefährdung für viele Verbraucher in den nächsten Monaten deutlich zunehmen wird". Grund sei die Wirtschaftslage mit steigenden Kosten für Energie, Leben, Wohnen und mitunter drohender Arbeitslosigkeit, heißt es im Schuldneratlas 2023.
"Die Rücklagen vieler Menschen sind aufgebraucht", beobachtet Caritas-Beraterin Wegner. Sie spricht von einer Kette von Krisen:Corona-Pandemie, Flut in Rheinland-Pfalz, Ukraine-Krieg, Inflation. Vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen könnten nichts zurücklegen.
Schuldenfalle Studienkredit?
In der Beratung sitzen Menschen mit allen Bildungsabschlüssen, auch Gutverdiener. Die Zahl junger Menschen bis 25 Jahre nehme zu, sagt Wegner. Dort führten oft Handyverträge oder eine Familiengründung zu Schulden. Zuletzt kamen mehrere Studierende mit Kredit bei der staatseigenen Bank KfW, die die Zinsen zuletzt drastisch auf 9 Prozent erhöhte.
Ein Student entrüstet sich in der Beratung: "Es kann doch nicht sein, dass ich wegen einem Studienkredit in die Schuldenfalle getrieben werde." Seinen Kredit von 24.000 Euro will er nun schnellstmöglich zurückzahlen – und sucht nach lukrativen Nebenjobs.
Last auf den Schultern los werden
Wegner und ihre Kollegen kennen viele unschöne Geschichten. Partner, die gedrängt wurden, einen Kredit mit zu unterschreiben und letztlich allein mit Schulden und Kindern da standen. Ein Pastor, der Betrügern in Rumänien aufsaß. Ein Mann, der einem flüchtigen Bekannten umfängliche Vollmachten erteilte. Familien, denen der Strom abgedreht wurde. Menschen, die sich Monat für Monat am Existenzminimum entlanghangeln. Personen, die über ihre Verhältnisse leben. Andere, die nie gelernt haben, mit Geld hauszuhalten. Viele, die schnell Kredite bekamen und die hohen Zinsen nicht bedienen können.
Juristin Wegner betont: "Wir legen Wert darauf, mit den Klienten einen Plan zu entwickeln, damit sie langfristig schuldenfrei leben." In vielen Fällen gelinge das. Wer dennoch wieder in Verschuldung gerät, kann frühestens nach elf Jahren erneut Insolvenz beantragen.
Müller sagt, sie möchte "aus dem Schlamassel herauskommen" und von ihrem Gehalt gut leben können. Dennoch fürchtet sie sich vor den Folgen eines Insolvenzverfahrens, will darüber nachdenken. Ihr Wunsch ist es, die "große Last auf den Schultern" loszuwerden.