"In dieser Zeit, als die Welt alt geworden war, brachte die Kirche zwei Orden hervor; und diese gaben ihr, Adlern gleich, ihre Jugend zurück." Poetisch beschwingt preist Burchard von Ursberg (gestorben um 1230) ein Phänomen seiner Zeit: die Reform der katholischen Kirche von unten, vorangetrieben durch die neu gegründeten Bewegungen der Prediger- und der Minderbrüder. In der Folge besser bekannt als Dominikaner und Franziskaner.
Dass die Reformbewegungen des Dominikus von Caleruega (1170-1221) und des Franz von Assisi (1181-1226) vom Papst anerkannt wurden, war keineswegs absehbar. Rückblickend grenzt es an ein Wunder, dass Franziskus zwei Jahre nach seinem Tod heiliggesprochen wurde - und nicht auf dem Scheiterhaufen oder in der Versenkung endete. Drei Entwicklungen hätten die Bewegung des Aussteigers aus Assisi schnell im Keim ersticken können.
Radikale Armutsprediger kamen ihm gerade recht
Da waren zum einen die Kreuzzüge in Südwesteuropa gegen Reformbewegungen wie Katharer, Albigenser und Waldenser. Zum zweiten hatte bereits zehn Jahre nach Franziskus' Tod dessen langjähriger Gönner und Förderer, Papst Gregor IX., die Inquisition errichtet.
Schließlich hatten Papst und Kurie eine Machtfülle errungen wie selten in 2.000 Jahren christlichen Abendlands. Da kam ihnen ein radikaler Armuts- und Demutsprediger gerade recht ...
Als der verwöhnte Giovanni di Pietro di Bernardone, genannt Francesco, im Frühjahr 1208 seinem Vater die Gewänder des reichen Kaufmannssohns hinwirft und in Sackleinen und Strick Gesinnungsgenossen um sich sammelt, folgt er dem damals angesagten Ideal der Vita apostolica. Grundlage dieser Lebensform ist jene Szene im Neuen Testament, in der Jesus seine Jünger aussendet: Ohne Vorratstasche und Geld, Wechselkleidung und nur mit Sandalen sollten sie sich auf den Weg machen. Nirgends sollten sie sich länger aufhalten.
1209 gibt es ein programmatisches Manifest
Die Idee des 26-Jährigen aus Assisi ist also nicht neu. Sie entspricht dem Trend vieler, die das Gebaren der Mächtigen argwöhnisch beäugen. Schnell schließen sich ihm Laien und Kleriker aus Assisi und Umgebung an, bilden eine erste kleine Wandergemeinschaft. 1209 verfasst Franz eine Art programmatisches Manifest - eine Zusammenstellung von Bibelzitaten. Die lässt er in Rom dem Papst unterbreiten. Innozenz III. stimmt dem Projekt mündlich zu.
Die vom Maler Giotto festgehaltene Szene, in der Innozenz davon träumt, wie Franziskus ein Kirchlein stützt, setzt die päpstliche Überlegung ins Bild. Doch bevor der Papst etwas unterschreibt, will er die Entwicklung des Franziskus-Experiments abwarten. Ist dieses doch in vielen Punkten mit den Bestrebungen der Waldenser vergleichbar. Die Reformbewegung des südfranzösischen Kaufmanns Petrus Valdes war schon 1184 als häretisch verurteilt worden.
Derweil entwickelt die Franziskus-Bewegung, ermutigt durch das positive Signal aus Rom, richtig Schwung. Sie nennt sich Minoriten - Minderbrüder im Sinne von bescheiden und demütig. 1212 stößt eine junge Adlige zu den Aussteigern: Clara von Assisi. Mit ihr nimmt der weibliche Zweig des künftigen Ordens seinen Anfang.
Bewegung droht aus dem Ruder zu laufen
1219/1220 hält Franziskus sich in Ägypten und im Heiligen Land auf. Doch er muss zurück nach Italien. Seine Bewegung von inzwischen mehr als 3.000 Brüdern droht aus dem Ruder zu laufen. Franz sorgt für Ordnung, möchte aber die Leitung des Ordens abgeben. Institutionellen und disziplinarischen Problemen fühlt sich der Charismatiker nicht gewachsen. Zudem fordert Kardinal Ugolino, offizieller Schirmherr der Bewegung, die Bruderschaft in einen kirchlichen Orden umzuwandeln, inklusive richtiger Ordensregel.
1221 verfasst Franziskus eine Fassung, die aber abgelehnt wird. Auf Anweisung der römischen Kurie und mit Unterstützung Ugolinos schreibt er 1223 eine dritte Version. Nachdem das Generalkapitel des Ordens diese verabschiedet hat, bestätigt Papst Honorius III. sie am 29.
November 1223 mit der päpstlichen Bulle "Solet annuere": "... haben Wir Uns euren frommen Bitten geneigt und bestätigen euch kraft apostolischer Vollmacht die Regel eures Ordens, die (...) in vorliegendem Schreiben festgehalten ist".
Wer sich einmischt
Warum unterschreibt der mächtige Papst die Statuten einer Armuts-versessenen Bewegung? Als ehemaliger Kardinalkämmerer der Kirche Roms wusste Honorius geordnete und gut fließende Finanzen zu schätzen. Gleichzeitig ahnte er wohl, dass Franziskus und seine Gesinnungsgenossen dichter am Leben Jesu waren. Hatte doch schon sein Vorgänger Innozenz III. gewarnt: Wer sich in die Händel dieser Welt einmischt, geht daraus nicht unbefleckt hervor.
Um die gesellschaftskritische «Lebensweise der Minderen Brüder» zügeln zu können, klärt das 1. Kapitel neben dem Leben «ohne Eigentum und in Keuschheit» vor allem Gehorsamshierarchien: Franziskus gegenüber Papst, Minderbrüder gegenüber Franziskus; entsprechend alle Nachfolger. Wer eintritt, soll sein Eigentum verkaufen und es den Armen geben - nicht dem Orden. Im Übrigen können auch verheiratete Männer eintreten - so ihre Frau ebenfalls in einem Kloster lebt oder beide enthaltsam leben.
Druck von der Obrigkeit
Ihren weiteren Erfolg verdanken die Minderbrüder und andere franziskanische Männerorden nicht allein ihrer Bescheidenheit. Schon bald werden sie wie die Dominikaner nicht nur zur rechtmäßigen Belehrung der Gläubigen eingesetzt, sondern auch zur Verfolgung von Irrlehren. Auftrag und Autorität von Päpsten, Bischöfen und anderen Fürsten verleihen der franziskanischen Bewegung und ihrer weltweiten Verbreitung zusätzlichen Druck.
Dass die ursprüngliche Idee des frommen Aussteigers aus Assisi weiterhin lebendig ist, zeigen Namenswahl und Programm eines gewissen Jorge Bergoglio, der 790 Jahre später erster Papst von der Südhalbkugel wird - und sich Franziskus nennt.