DOMRADIO.DE: Vergangene Woche hieß es in den Medien, in Guatemala werde ein Haftbefehl gegen Sie geprüft. Sie sind derzeit in Deutschland, um an der Eröffnung der Weihnachtsaktion des deutschen Lateinamerikahilfswerks Adveniat teilzunehmen. Haben Sie keine Angst, bei ihrer Rückkehr in die Heimat verhaftet zu werden?
Alvaro Leonel Kardinal Ramazzini (Bischof des Bistums Huehuetenango in Guatemala): Nein, die Staatsanwaltschaft hat mittlerweile – nachdem ich das öffentlich gemacht habe – erklärt, dass gegen mich nichts vorliege. Vielleicht waren es nur Gerüchte, vielleicht war es auch wahr, aber dafür habe ich keine Beweise.
DOMRADIO.DE: Woher kamen denn die Gerüchte?
Ramazzini: Vertreter einer indigenen Gruppe, mit der ich schon lange in Kontakt stehe, riefen mich an und wiesen mich darauf hin. Ich habe mich damit aber nicht aufgehalten und das geprüft. Ich wollte auch nicht wissen, was der Inhalt ist. Nun hat die Staatsanwaltschaft es auch bestritten.
DOMRADIO.DE: Sie sind seit Jahrzehnten ein scharfer Kritiker der Politikereliten in Guatemala, ein einflussreiches Netzwerk aus Militärs, Unternehmern und dem organisierten Verbrechen, das die eigentliche Macht im Land hat. Sie fordern die Respektierung des Wahlergebnisses vom 20. August, die der Sozialdemokrat Bernardo Arevalo deutlich gewonnen hat, den die amtierende Regierung aber verhindern will. Will man Sie einschüchtern oder zum Schweigen zu bringen?
Ramazzini: In einem Land wie Guatemala würde das niemanden erstaunen. In den vergangenen Wochen wurden zahlreiche Studenten und Professoren der Universidad San Carlos verhaftet, weil sie gegen die Wahl des Universitätsrektors protestierten, dessen Gegenkandidaten im Vorfeld ausgeschlossen waren. Das ist also durchaus möglich bei uns.
DOMRADIO.DE: Es war auch nicht das erste Mal, dass Sie bedroht wurden, richtig?
Ramazzini: Ich habe schon Todesdrohungen bekommen. Vor Jahren gab es den Fall, dass man einem Mann 50.000 US-Dollar Kopfgeld für mich angeboten hat. Aber er nahm das Geld nicht an und machte die Geschichte öffentlich.
Als ich Bischof von San Marcos war, wurde ich verfolgt. Aber seit ich im Bistum Huehuetenango bin, gab es keinerlei solcher Vorfälle mehr.
DOMRADIO.DE: Aber sind Sie weiterhin aufmerksam oder beunruhigt?
Ramazzini: Nein, eigentlich nicht. Ich glaube, dass mein Leben in den Händen Gottes liegt. Und wenn etwas passiert, wird es passieren. Das heißt nicht, dass ich fatalistisch bin oder an eine Vorsehung glaube. Aber ich glaube an einen Plan Gottes. Andernfalls würde ich mich nur sorgen und aus Angst nichts machen. Das wäre es nicht wert.
DOMRADIO.DE: Aber Sie haben nie darüber nachgedacht, zu schweigen?
Ramazzini: Nein, ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet. Diese Aufgabe habe ich nach reiflicher Überlegung angenommen und ich fühle mich mit allem, was ich tue, immer wieder darin bestärkt. Solche Verpflichtungen vertragen keine Zweifel und kein Zaudern. Ich kann nicht heute "ja" und morgen "nein" sagen. Solche Entscheidungen trifft man und lebt dann nach ihnen.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt die katholische Kirche in einem Land wie Guatemala, in dem die Straflosigkeit bei 98 Prozent liegt, die Politiker korrupt sind und die Demokratie in Gefahr ist?
Ramazzini: Wir stehen an der Seite der Menschen und wir sehen uns – wie der Name "Pastoral" besagt – wie die Hirten einer Herde, damit sich die Menschen begleitet und wahrgenommen fühlen. Denn das ist das zentrale Problem in Guatemala: Wir haben keine richtige Demokratie. Als Kirche wollen wir den Menschen vermitteln, dass sie nicht alleine sind und dass wir uns für ihre Rechte einsetzen.
Meine Überzeugung ist, dass wir als Christen und ich als Bischof Zeugnis von unserem Glauben abgeben müssen. Das Leben und die Taten Jesu sind für mich eine Verpflichtung, seit ich mich zu Gott berufen fühle.
Natürlich ist es auch eine Frage des Vertrauens. In einem Land, in dem sich die Politiker auf Kosten der Allgemeinheit bereichern, fühlen wir uns verpflichtet, die Hoffnungen des Volkes nicht zu enttäuschen. Die Menschen vertrauen uns und wir dürfen sie nicht enttäuschen.
DOMRADIO.DE: In Nicaragua – quasi in der Nachbarschaft Guatemalas - wurde Bischof Rolando Alvarez 2022 unter Arrest gestellt, weil er das Ortega-Regime kritisiert hatte. Ist das eine neue Qualität, dass sogar Bischöfe und Kardinäle verhaftet oder bedroht werden, wenn sie sich regierungskritisch äußern oder für die Demokratie aussprechen?
Ramazzini: Ich würde eher sagen: Geschichte wiederholt sich. In Guatemala wurde Bischof Juan Gerardi 1998 ermordet, in El Salvador 1980 der Heilige Oscar Romero. Ich beobachte, dass einige Regime wieder in diese Muster zurückfallen, weil sie nicht ertragen, dass jemand die Wahrheit ausspricht und sie infrage stellt. Aber dazu können wir nicht schweigen, nicht aus Angst und nicht aus Gefälligkeit.
DOMRADIO.DE: Im vergangenen August wurde in Guatemala Bernardo Arevalo als Gewinner der Stichwahl offiziell bestätigt. Fast gleichzeitig wurde jedoch seine Mitte-Links-Partei "Movimiento Semilla" ("Samenkorn-Bewegung") wegen mutmaßlicher Unregelmäßigkeiten vorläufig suspendiert. Das Land befindet sich derzeit in einer politischen Krise. Am 15. Januar soll Arevalo das Präsidentenamt antreten. Wie blicken Sie auf dieses Datum?
Ramazzini: Ich glaube, dass alle Bürger Guatemalas die demokratischen Wahlergebnisse verteidigen müssen. Das Volk hat Arevalo gewählt. Jeder Versuch, seinen Amtsantritt zu verhindern, ist eine Verneinung der Demokratie und der Stimmen. Sie würden die Wahlen zu einem Witz degradieren und der Demokratie in Guatemala einen großen Schaden zufügen. Ich hoffe, dass das nicht passiert.
Ohne seine Partei wäre Arevalo nicht arbeitsfähig, seine Abgeordneten könnten weder eine Fraktion bilden, noch Ausschüsse anführen. Der neue Präsident wäre damit de facto machtlos. Aber ich hoffe, dass wir Guatemalteken schaffen, das zu verhindern.
DOMRADIO.DE: Wie tragen Sie als Kirchenmann dazu bei?
Ramazzini: Wir als Kirche wollen ein Bewusstsein für zivilgesellschaftliche Verantwortung schaffen. Wir sprechen uns nicht für eine Partei aus, aber wir sind dahingehend politisch, dass wir uns für die Zukunft unseres Landes einsetzen. Dazu zählt auch der Respekt vor dem Willen des Volkes, der sich in der jetzt in der Wahl Arevalos manifestiert.
Die Beispiele in Nicaragua oder Venezuela zeigen uns, wohin solche Art Diktaturen führen. Aber noch bin ich zuversichtlich, dass es zu einer regulären Machtübergabe im Januar kommen wird und dass sich die politischen Verantwortlichen darüber bewusst werden, dass sie die Stabilität des Landes gefährden.
DOMRADIO.DE: Sie sind derzeit in Deutschland, um die Eröffnung der Weihnachtaktion von Adveniat zu unterstützen. Was ist Ihre Botschaft an die Deutschen?
Ramazzini: Dass wir dankbar für die jahrzehntelange Solidarität sind und dass ich hoffe, dass diese Solidarität sich jetzt nicht nur in finanzieller Hilfe äußert, sondern auch in internationaler Aufmerksamkeit für die politischen Entwicklungen in unserem Land.
Ich wünsche mir, dass die Deutschen ihren internationalen Einfluss geltend machen und die demokratischen Kräfte in unserem Land unterstützen.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.