Politikwissenschaftler sieht Mängel in Becciu-Urteil

Charakter eines Sondertribunals?

Nach dem historischen Urteil gegen Kardinal Becciu durch das "eigene Haus", gibt es Zweifel, ob die fünfeinhalbjährige Haftstrafe je vollstreckt wird. Ralph Rotte, Professor für internationale Beziehungen, beobachtete das Verfahren.

Prozess um Finanzskandal im Vatikan / © Gregorio Borgia (dpa)
Prozess um Finanzskandal im Vatikan / © Gregorio Borgia ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie bewerten Sie das Urteil? 

Prof. Ralph Rotte, Lehrstuhlinhaber für Internationale Politik, RWTH Aachen / © Universität Aachen (privat)
Prof. Ralph Rotte, Lehrstuhlinhaber für Internationale Politik, RWTH Aachen / © Universität Aachen ( privat )

Ralph Rotte (Politikwissenschaftler, Professor für internationale Beziehungen an der RWTH Aachen): Ich glaube, dass es durchaus ein Zeichen dafür ist, dass der Papst bzw. die Vatikan-Justiz versucht, relativ hart gegen jede Art von Korruption und Nepotismus durchzugreifen. Wir hatten ja im letzten Jahr schon das Urteil gegen den ehemaligen Leiter der Vatikanbank (IOR) Angelo Caloia, der zu acht Jahren und elf Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Mittlerweile ist das rechtskräftig. Das heißt also, wenn wir das ganze Prozedere hinter uns haben mit Berufung etc., könnte am Ende ein Urteil stehen, das relativ harsch gegenüber dem ist, was man vonseiten des Vatikans gewohnt ist. 

DOMRADIO.DE: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Becciu wirklich ins Gefängnis muss? 

Rotte: Die Wahrscheinlichkeit, dass er wirklich für längere Zeit ins Gefängnis muss, ist eher gering. Wir haben jetzt erst mal quasi eine Karenzzeit für ihn. Durch diese Berufung beim Appellationsgerichtshof wird es interessant, inwieweit sich bei dem Urteil irgendwas ändert. Denn es geht hier um einen Gerichtshof, der zu mehr als der Hälfte aus geistlichen Richtern besteht, aus Klerikern. Da ist interessant, wie die mit ihrem "Genossen" umgehen und ob das etwas anderes ist als in der ersten Instanz. 

Ralph Rotte

"Die Wahrscheinlichkeit einer Gefängnisstrafe ist relativ gering."

Und dann hat der Papst quasi schon ein bisschen vorgesorgt, denn er hat ja im Vorfeld – das ist auch ein Vorwurf gegen ihn – das Strafrecht etwas verändert. Da steht zum Beispiel drin, dass man bei guter Führung ohnehin nur bis knapp ein Drittel der Strafe erlassen kann. Er kann immer begnadigen. Das ist in der Vergangenheit auch immer wieder passiert. Und es gibt jetzt die Möglichkeit bei der Rechtskraft des Urteils einen Deal zu machen mit dem Gericht, dass etwa eine Haftstrafe ersetzt wird durch soziale Arbeit etc. Das heißt also, die Wahrscheinlichkeit auch vor dem Hintergrund, dass er jetzt schon Mitte 70 ist, dass da irgendwie groß etwas in Richtung Gefängnisstrafe passiert, ist, glaube ich verhältnismäßig gering. 

DOMRADIO.DE: Wo muss sich der Appellationsgerichtshof verantworten? Was ist die nächste Instanz und warum sitzen da Kleriker drin? 

Rotte: Das ist die die Konstruktion im Staat der Vatikanstadt. Sie haben da noch zwei weitere Ebenen nach dieser ersten Instanz, die jetzt hinter uns liegt. Sie haben einen Berufungsgerichthof, den so genannten Appellationsgerichtshof. Der besteht aus sieben Leuten, der Vorsitzende ist ein Kleriker, darunter dann drei Laien und drei Kleriker. Die sind dann sozusagen zuständig dafür, was jetzt dann bei der Berufung passiert. Und für den Fall, dass dann noch mal Berufung eingelegt wird von Seiten der Staatsanwaltschaft, weil etwa das Urteil teilweise kassiert wird, gibt es noch den Kassationsgerichtshof, der so ähnlich bestückt ist. Das ist das höchste Gericht des Vatikanstaats. 

DOMRADIO.DE: Von der Verteidigung wird von Anfang an das Verfahren kritisiert, einerseits wegen Verfahrensfehlern, aber auch, weil man den Vatikan nicht als Rechtsstaat mit Gewaltenteilung erachtet. 

Sie haben es angesprochen – der Papst hatte in dem Zusammenhang kurzfristig Gesetze abgeändert. Wie viel ist denn an diesem Vorwurf dran? Wäre das ein Ansatzpunkt, wo man hinterfragen könnte, ob das alles so rechtens ist? 

Rotte: Es stellt sich natürlich die Frage, ob es in einem solchen Verfassungssystem wirklich so etwas gibt wie eine unabhängige Gerichtsbarkeit, wenn der Papst sozusagen alles in einem ist - höchster Richter, höchster Gesetzgeber, höchste Regierung und dann eben tatsächlich indirekt zumindest auf das Verfahren Einfluss nimmt. Dann fragt man sich schon, ob das mit unseren rechtsstaatlichen Gepflogenheiten wirklich übereinstimmt. 

Es gibt Vorwürfe, die noch einen Schritt weiter gehen und sagen dieser Prozess hatte den Charakter eines Sondertribunals, weil spezielle Regeln eingeführt wurden, dass man zum Beispiel einen Prozess bei Abwesenheit führen kann, wenn ein Anwalt da ist, der den Delinquenten vertritt. Wir haben die relativ kurzfristige Änderung des Strafrechts, damit ein Kardinal vor einem weltlichen Gerichtshof auftreten kann. Und wir haben natürlich so ein paar Verfahrensprobleme, dass zum Beispiel die Verteidigung einiger dieser Mandanten bis heute sagt, dass sie nicht Einsicht in alle Akten bekommen hat, vor allen Dingen elektronische Protokolle, dass es nicht möglich war, den Kardinalstaatssekretär Parolin zu befragen. Das sind alles Punkte, die skeptisch machen in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. 

Ralph Rotte

"Es gab britische Richter, die zum Beispiel gesagt haben, was der Vatikan da veranstaltet, entspricht nicht unseren Standards."

Vielleicht gibt es einen kleinen "Trost", nachdem das Ganze ja ein Verfahren ist, das gleichzeitig zivilrechtlichen Charakter hatte, mit entsprechend großen Schadensersatzforderungen, führt das dazu, dass letztendlich wahrscheinlich über 200 Millionen Euro im Ausland beschlagnahmt werden müssen. Da bedarf es dann der Kooperation der ausländischen Gerichtsbehörden – also vor allen Dingen wahrscheinlich italienischer und britischer. 

Da kann man durchaus sagen, bevor die bei so etwas zustimmen, werden die noch mal ein Auge darauf werfen. Und dann ist es interessant, wie denn die Wertung ausschaut, ob das jetzt ein rechtsstaatliches Verfahren war oder nicht. Ein paar Hinweise gab es schon in den letzten Jahren - mal so, mal so: Es gab britische Richter, die zum Beispiel gesagt haben, was der Vatikan da veranstaltet, entspricht nicht unseren Standards und deswegen frieren wir Guthaben von Angeklagten nicht ein. 

Das wird spannend zu sehen. Das Ganze wird aber dann wahrscheinlich in etwa zwei Jahren passieren, denn ich gehe mal davon aus, dass das schon bis Ende des nächsten Jahres dauern wird, bis dieser Berufungsgerichtshof mit seinem Urteil fertig ist. 

DOMRADIO.DE: Es gibt auf der anderen Seite Stimmen, die sagen, dass es ein sehr großes Zeichen ist, dass der Vatikan in den eigenen Reihen versucht, klar Schiff zu machen. Was denken Sie denn im Nachhinein? War das gut, dass der Vatikan jetzt diesen Mammut-Prozess selber in die Hand genommen hat? Oder wäre es besser gewesen, da die externe Justiz ranzulassen? 

Rotte: Wenn man sich die verschiedenen Vorwürfe ansieht, kann man durchaus sagen, wäre es vielleicht in Bezug auf eine klare Rechtsstaatlichkeit und Transparenz schlauer gewesen, das vor einem italienischen Gericht zu machen, das eine größere Expertise und vielleicht auch einen größeren Unterbau hat in dem Bereich.

Auf der anderen Seite ist völlig klar, dass es ein Zeichen ist, dass man versucht vor der eigenen Tür zu kehren und den eigenen "Laden" einigermaßen zu reformieren. Jetzt ist die zentrale Frage, wie in der Kurie darauf reagiert werden wird. Es gibt ja die Möglichkeit, dass es jetzt eine Art Ruck gibt und man tatsächlich stärker gegen Korruption vorgeht, also dass sich etwas vom Geist her ändert. 

Ansonsten könnte man jetzt sagen, es ist eine harte Warnung gegenüber denjenigen, die vielleicht noch eine andere Interessenslage haben oder eine andere Tradition pflegen. Die könnten einen gewissen Anreiz haben, ein bisschen auf Zeit zu spielen. Der Papst ist nicht mehr der Jüngste, nicht mehr der Gesündeste. Es gibt dann die Überlegung, inwieweit solche Fragen im nächsten Konklave eine Rolle spielen könnten. Man könnte vielleicht einen Kandidaten aussuchen, der in dieser Perspektive nicht ganz so rigide ist. Da gibt es auch ein paar ansatzweise theologische Argumente dazu, dass man sagt, dieser Prozess ist ein Zeichen dafür, dass einerseits der Papst seinen Kardinälen nicht vertraut, also das Grundgefüge der Kurie unterminiert wird. Und zum anderen, dass etwa die Kurie verweltlicht wird, profaniert wird, indem man jetzt weltliche Gerichte heranzieht und quasi durch diese stärkere Einbeziehung des Vatikanstaates die Kirche "verstaatlicht". All das sind Punkte, die man kritisch anmerken kann. Da ist jetzt die Frage, wie jetzt die Stimmung ist, vor allen Dingen unter den Kardinälen. Das kann man, glaube ich, von außen relativ schwer beurteilen. 

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Der Fall Becciu

Im großen Finanzprozess um fragwürdige Millionendeals ist erstmals in der Geschichte der katholischen Kirche ein Kardinal von einem Gericht im Vatikan zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Der Vatikan-Gerichtshof verhängte am Samstag gegen den italienischen Kardinal Angelo Becciu wegen seiner Verwicklungen in einen verlustreichen Immobilienskandal eine Haftstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Noch nie zuvor war ein Kurienkardinal von einem Vatikan-Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Beccius Anwälte kündigten an, gegen das Urteil Einspruch einzulegen.

Kardinal Angelo Becciu / © Paolo Galosi/Romano Siciliani (KNA)
Kardinal Angelo Becciu / © Paolo Galosi/Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR