Zwei Aspekte erwähnt er als fortbestehende Reibungspunkte zwischen Glaubenslehre und Zeitgeist: das kirchliche Verständnis von Ehe und die von der Kirche hochgehaltene, für Fortpflanzung offene ("generative") Sexualität. "Ehe" in römischen Dokumenten meine etwas anderes als Ehe im heutigen Sprachgebrauch, so Zulehner. Sie werde heute weithin mit Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Treue verbunden; und alle Liebespaare, die es wünschen, sollen daher "heiraten" können.
Ein Fest der Dankbarkeit
"Solches Lieben will sich sehen lassen", führt der Theologe aus. Viele Paare wollten mit dem Segen Gottes ein Fest der Dankbarkeit feiern und auf jemanden zurückgreifen können, "der im Namen eines Übergeordneten sagt: 'Es ist gut' (was genau bene-dicere besagt)".
Papst Franziskus sperre sich gegen diesen Wandel im Ehebegriff, ohne letztlich verstanden zu werden, erläutert Zulehner. Das Sakrament der Ehe solle etwas anderes sein als eine Art kirchlicher Valentins-Segensfeier.
Ein zweites Missverständnis tut sich laut dem Theologen beim Thema Sexualität auf. Zwar habe sich in der Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) "die schaurigerweise so genannte 'Ehezwecklehre'" verändert; die Liebe stehe nunmehr gegenüber der Fortpflanzung obenan. "Zu schaffen macht der Kirche freilich die durch die Pille ermöglichte Trennbarkeit generativer und symbolischer Sexualität", schreibt Zulehner. Kirchliche Lehre sei weiterhin, dass eine Ehe ungültig ist, wenn kein Wille zum Kind vorhanden ist. Auch gelte als eheunfähig, wer zeugungsunfähig ist. "Wenn das schon für Heteros gilt, gilt dies natürlich auch für Menschen mit homosexueller Orientierung", so der Theologe.
Gute Gedeihräume für den Nachwuchs
So gesehen könne man die Position der Kirche verstehen: segnen ja - Ehe (im kirchlichen Sinne) aber nein. Es müsse jeder Anschein vermieden werden, dass eine solche Verwechslung aufkommen kann. Bei der Bewertung des Segnungsschreibens aus dem Vatikan gehe es letztlich um die "gesellschaftlich brisante Frage nach der Reproduktion des Lebens und guten Gedeihräumen für den Nachwuchs", bilanziert Zulehner. Und der Schutz von sakramental geheiligten Lebensräumen für Eltern und Kinder, geprägt von Stabilität und Liebe, hat laut Zulehner "auch gesellschaftspolitisch durchaus Gewicht".