Patriarch Pizzaballa blickt auf Lage der Christen in Nahost

"Kirche darf sich auf keine Seite schlagen"

Der Nahe Osten ist die Wiege des Christentums. Doch der Krieg treibt die ohnehin starke Abwanderung der Christen aus der Region weiter an. Kardinal Pierbattista Pizzaballa, oberster Katholik in der Region, hofft auf ihre Zuversicht.

Kardinal Pierbattista Pizzaballa, Lateinischer Patriarch von Jerusalem, spricht bei der Messe in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom  / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Kardinal Pierbattista Pizzaballa, Lateinischer Patriarch von Jerusalem, spricht bei der Messe in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

KNA: Herr Kardinal, wie geht es Ihnen, wie geht es den Christen in diesem Konflikt, in diesem Krieg?

Pierbattista Kardinal Pizzaballa OFM (Lateinischer Patriarch von Jerusalem): Wie es mir persönlich geht, ist im Moment weniger relevant. Für unsere kleine, aber sehr vielgestaltige Gemeinde ist die Situation äußerst schwierig, wie für die anderen Menschen auch. 

Die Lage ist natürlich von Region zu Region verschieden, am schlimmsten in Gaza, aber auch in den übrigen Territorien, in Bethlehem, auch in Jerusalem. Es herrscht große Angst und Unsicherheit, so viel Leiden.

KNA: Es gab auch Angriffe auf die Kirchen in Gaza mit Toten...

Pizzaballa: In der Tat wurde vor einigen Wochen die orthodoxe Kirche in Gaza getroffen, und jetzt, vor wenige Tagen, unsere katholische Gemeinde. Wir sind hier von nichts ausgenommen, in Gaza ist keiner sicher.

KNA: Was tun Sie, was tut die Ortskirche in dieser prekären Situation, um zu einer Beendigung des Krieges beizutragen, um Leid zu lindern?

Pizzaballa: Für ein Ende des Krieges können wir derzeit nichts tun. Es ist nicht der Moment, es fehlen die Bedingungen, dass wir Vorschläge oder Programme unterbreiten. In dieser Situation müssen wir uns auf Hilfe, auf Verbundenheit, auf konkrete Unterstützung für die betroffenen Familien konzentrieren – in Gaza, aber auch in der Westbank, in Bethlehem. 

Denn viele Menschen sind derzeit ohne Arbeit, ohne Perspektiven. Die Kirche muss in diesem Moment für sie da sein, muss nahe an ihren Gemeinden sein. 

Wir müssen mit Bedacht ehrliche und aufrichtige Ausdrucksformen finden, Erklärungen und Worte. Die Sprache darf nicht ausgrenzend sein; denn derzeit bewegt sich jeder in seinem Narrativ und in seiner Perspektive -  und anderes existiert nicht. Wir müssen aus dieser Dynamik herauskommen.

Pierbattista Pizzaballa

"Die Weltkirche tut in dieser Situation viel für uns, insbesondere der Papst mit seinen öffentlichen Äußerungen und Initiativen."

KNA: Was erwarten Sie in dieser Situation von der Weltkirche. Hat sie die Kirche im Heiligen Land ausreichend im Blick?

Pizzaballa: Die Weltkirche tut in dieser Situation viel für uns, insbesondere der Papst mit seinen öffentlichen Äußerungen und Initiativen. Er telefoniert ständig mit den Gläubigen unserer Gemeinde in Gaza. Dann haben uns viele Ortskirchen ihre Solidarität bekundet. 

Als wir vor einiger Zeit zu einem Tag des Gebets und des Fastens aufgerufen haben, hat das breites Echo gefunden, viele Kirchen haben sich angeschlossen. Wenn sie uns konkret mit humanitärer Hilfe unterstützen wollen, sind wir dankbar.  

KNA: Kann man überhaupt in dieser Situation in der von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt Bethlehem Weihnachten feiern?

Pizzaballa: Man muss es feiern. Die äußeren Umstände können die Formen und den Rahmen verändern und modifizieren, wie man Weihnachten feiert: jetzt eben sehr einfach, sehr bescheiden, ohne festliche Äußerlichkeiten. 

Aber in Jesu Geburtsort Bethlehem darf man keinesfalls auf die religiöse Feier des Weihnachtsfestes verzichten. 

KNA: Welche Zukunftsperspektiven sehen Sie, welche Exit-Strategie? Wie geht es nach dem Ende der Kämpfe weiter, angesichts von Verhärtungen und Misstrauen?

Pierbattista Pizzaballa

"Es fehlt an klaren Ideen, jede Seite hat unterschiedliche Vorstellungen und möchte etwas anderes."

Pizzaballa: Ich sehe im Moment noch keine klare Strategie zum Ausweg aus dieser Situation. Die Diskurse sind sehr kontrovers. Es fehlt an klaren Ideen, jede Seite hat unterschiedliche Vorstellungen und möchte etwas anderes. Ich bin nicht sicher, ob die Seiten überhaupt klare Ideen für die Zukunft haben. 

Aber sobald der Krieg zu Ende geht – und irgendwann wird er enden – müssen wir unsere Fehler aufarbeiten, uns unser Versagen bewusst machen und das tiefe Misstrauen überwinden, das herrscht. Vielleicht haben wir bislang auch nicht genug getan. Wir müssen uns der Versäumnisse bewusst werden und dann neu beginnen, neu starten. 

KNA: Welche Rolle sehen Sie für die Christen nach Kriegsende? Haben Sie dann eine besondere Aufgabe, sehen Sie eine Vision?

Pizzaballa: Ich weiß nicht, ob die Christen eine bestimmte Rolle haben. Aber sie haben natürlich ihre eigene, eine besondere Rolle: Sie müssen mit ihrem Volk verbunden sein und bleiben, und sie müssen innerhalb ihrer Volksgruppe aufgrund ihres Glaubens und ihrer Botschaft ein Ferment des Vertrauens sein.

Pierbattista Pizzaballa

"Es gibt immer wieder Versuche, den Papst für eine Seite zu vereinnahmen. Aber der Papst lässt sich nicht vereinnahmen."

KNA: Dem Papst wird vorgehalten, er sei zu ausgewogen, stehe über den Parteien. Was tut Franziskus für das Heilige Land?

Pizzaballa: Der Papst ist meiner Ansicht nach nicht neutral - er ist in seinen Positionen und Äußerungen immer sehr klar. Es gibt immer wieder Versuche, den Papst für eine Seite zu vereinnahmen. Aber der Papst lässt sich nicht vereinnahmen. Auch die Kirche darf sich nicht parteiisch auf eine Seite schlagen. 

Sie muss immer für Wahrheit und Gerechtigkeit eintreten und dafür Partei ergreifen. Sie muss frei sein, die aktuellen Vorkommnisse offen zu benennen, Gerechtigkeit zu verkünden und für sie einzutreten - mit Respekt gegenüber allen, aber mit Entschiedenheit und Klarheit. Sie darf nicht der Logik erliegen, dass mit dem einen zu sein bedeute, gegen den anderen zu sein. 

KNA: Der Vatikan tritt im Nahost-Konflikt für eine Zwei-Staaten-Regelung ein und für einen Sonderstatus für Jerusalem. Ist das noch realistisch?

Pizzaballa: Es gibt keine Alternativen. Der Papst, der Heilige Stuhl muss sich dafür einsetzen. Natürlich ist das unter den gegenwärtigen Umständen eine äußert komplexe Perspektive. Aber ich sehe keine Alternative. 

KNA: Was ist im Moment ihre größte Sorge?

Pizzaballa: Für den Moment sehe ich, dass alle Territorien abgesperrt sind, die Grenzen sind zu. Gaza, die Westbank, alles ist abgesperrt. Es gibt Probleme mit Verbindungswegen und -mitteln, mit Kommunikation, mit dem Transport. Dies macht das Leben für die Gemeinden äußerst schwierig.  

Was künftige Perspektiven betrifft: Man weiß nicht, wie es nach dem Krieg aussieht, was bleibt. Das ist Anlass zur Sorge. Es ist schwierig abzuschätzen, was dann zu tun und was erforderlich ist, wenn man nicht weißt, was passiert.

Pierbattista Pizzaballa

"Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das Vertrauen der Familien in die Zukunft stärker ist als die Angst der Gegenwart - und müssen viel beten und hoffen."

KNA: Was tut die Kirche, um die Abwanderung der Christen zu stoppen?

Pizzaballa:  Hauptsächlicher Grund für die Abwanderungen von Christen sind wirtschaftliche Überlegungen, ist die wirtschaftliche Lage, die sich mit dem Krieg nochmal verschärft hat. 

Und die können wir nicht beeinflussen oder anhalten. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das Vertrauen der Familien in die Zukunft stärker ist als die Angst der Gegenwart - und müssen viel beten und hoffen. 

KNA: Sie haben sich zu Beginn des Kriegs als Austausch für die Geiseln angeboten. Gab es irgendwelche Reaktionen? Und würden Sie es wieder tun?

Pizzaballa: Es gab keine Antwort, keine Reaktion, es gab keine konkreten Kontakte. - Aber ich würde es jederzeit wieder tun. Denn der Hirte muss sein Leben für seine Herde geben.

Das Interview führte Johannes Schidelko.

Christen im Heiligen Land

Die Christen sind im Heiligen Land eine kleine Minderheit. Genaue Zahlen sind schwer zu benennen, auch angesichts des Wegzugs vieler Christen in den vergangenen Jahren. In Israel sind es rund zwei Prozent von rund 8,7 Millionen Bürgern; viele von ihnen sind Araber.

Ordensschwestern in Jerusalem / © Andrea Krogmann (KNA)
Ordensschwestern in Jerusalem / © Andrea Krogmann ( KNA )
Quelle:
KNA