DOMRADIO.DE: Eines der Highlights in der evangelischen Welt war ja mit Sicherheit der Evangelische Kirchentag vom 7. Bis 11. Juni in Nürnberg. Dieses Jahr mit Thomas de Maizière als Kirchentagspräsident. Viele Politiker aus den ersten Reihen waren dabei. Das Motto "Jetzt ist die Zeit", Sie waren mit dabei. Wie erinnern Sie diese fünf Tage?
Peter Dabrock (Evangelischer Theologe, Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen und ehemaliges Mitglied des Deutschen Ethikrates): Es war eine großartige, eine wunderbare Zeit. Wir haben als Familie jeden Tag von morgens bis abends nur Kirchentag gemacht. Das hängt bei uns auch ein bisschen damit zusammen, dass meine Frau Mitglied im Präsidium des Kirchentages ist.
Aber ich hatte selber auch mit meiner Frau zusammen eine Bibelarbeit auf dem Weg. Das war auch ein wunderbares Erlebnis, weil wir das zusammen mit der Gemeinde meiner Frau gestaltet haben. Also wirklich auch ein Gemeindeaufbauerlebnis sondergleichen. Und ja, wir haben es erlebt als "ein Sommermärchen des Glaubens", wie der Nürnberger Oberbürgermeister König es genannt hat.
DOMRADIO.DE: Aber es waren trotzdem weniger Teilnehmerinnen und Teilnehmer da als vor der Pandemie. Und da fragt man sich natürlich schon, hat so ein Event in Zeiten der Kirchenkrisen, in Zeiten der multiplen gesellschaftlichen Krisen noch die gesellschaftliche Strahlkraft, die es mal hatte? Oder ist es vielleicht ein Zeichen, des Relevanzverlustes in der evangelischen Kirche?
Dabrock: Alle Veranstaltungen, bei denen ich dabei war, waren restlos ausverkauft. Schauen Sie sich mal die Fotos der Abendgebete auf dem Nürnberger Hauptmarkt an. Ein Lichtermeer. Da passte wirklich kein Menschlein mehr auf den Hauptmarkt. So viele Veranstaltungen waren überfüllt.
Ich weiß nicht, ob die nicht richtig gezählt haben oder ob die Nürnberger zu den Veranstaltungen einfach so dazugekommen sind. Aber diesen Eindruck, den ich jetzt gerade schildere, das ist auch kein subjektiver Eindruck, sondern das ist einer der vor Ort auch von vielen Verantwortlichen, wenn ich das mal hier so ausplaudern darf, geteilt worden ist. Also da gibt es eigentümlich eine Diskrepanz.
Diese Veranstaltung hat gezeigt, Kirche, Christentum hat etwas zu sagen in dieser Zeit. Und schauen Sie mal, es waren wirklich alle bedeutenden Politikerinnen und Politiker bei dieser Veranstaltung mit dabei. Der Bundespräsident, Bundeskanzler, sämtliche Minister des Kabinetts, auch Oppositionspolitiker, wie Friedrich Merz waren da.
Ja, es gibt riesige Kirchenkrise, es gibt Relevanzverlust, es gibt Kirchenaustritte, aber offensichtlich suchen noch immer ganz viele zivilgesellschaftliche Akteure und auch Politiker*innen das Forum Kirchentag, um dort zu sprechen. Und selbst beim Johannes-Empfang der Evangelischen Kirche war dieses Jahr der Bundeskanzler anwesend und letztes Jahr der Bundespräsident. Ich glaube, wir fallen in eine selbsterfüllende Prophezeiung hinein, wenn wir selber nur sagen, wir haben nur Relevanzverluste. Es gibt beides, würde ich sagen. Und genau darum müssen wir ringen, wie wir diese Spannung, Kirchenkrise und auch immer noch zivilgesellschaftliche Relevanz hinkriegen.
DOMRADIO.DE: Einen Moment darf man sicherlich auch nicht vergessen, beim Evangelischen Kirchentag. 25.000 Menschen beim Abschlussgottesdienst und eine Predigt von Pastor Quinton Ceasar, die Tage später noch durch die Schlagzeilen ging: "Gott ist queer". Das war die Aussage, die zitiert und in den sozialen Medien kontrovers diskutiert wurde. Hat er damit den Nerv der Zeit getroffen?
Dabrock: Ich glaube, was man in jedem Fall sagen kann: Er hat eine Bemerkung getätigt, die herausrufend und für etwas rufend war. Daran kann man sich abarbeiten. Und ich glaube, das ist etwas, was wir viel häufiger versuchen müssten, ohne dass wir gleich anderen sagen "Du hast vom Glauben nichts verstanden, du bist Häretiker, du bist Schismatiker", sondern dass wir tatsächlich über Dinge reden.
Ich weiß, dass ich selber geschluckt habe in dem Augenblick. Aber ich finde, dann ist ja irgendwas passiert, auch mit mir an der Stelle. Und hinterher habe mich natürlich, weil das mitten in meine Profession hineinfällt, kräftig drüber nachgedacht, habe auch mitbekommen, was in den sozialen Medien darüber diskutiert worden ist. Übrigens auch die wahnsinnigen Shitstorms, die er erhalten hat. Und ich wage mal die These dass die von Leuten kamen, die so mit unserer Kirche gar nichts am Hut haben. Das haben wir auch hier in Nürnberg mitbekommen, als wir von evangelischen Kirchen eine Ausstellung von Rosa von Praunheim hatten, da melden sich plötzlich Leute zu Wort, die sich sonst überhaupt nicht für Kirche engagieren, nur um eben tatsächlich Krawall zu machen. Und das hatte ich bei ihm auch erlebt.
Wenn man sagt, Gott hat eine bestimmte geschlechtliche Identität, dann habe ich ein Problem damit, genauso wie wenn ich sagen würde Gott ist Mann oder Gott ist Frau. Aber wenn man queer versteht als einen Begriff, der geschlechtliche klare Identitäten durchkreuzt und trotzdem, wenn man so will, nicht standortlos ist, dann ist das eine interessante These. Aber das hat er in der Predigt nicht so entfaltet. Das war auch nicht der Sinn der Predigt. Aber man sieht, er hat zum Nachdenken angeregt.
DOMRADIO.DE: In der evangelischen Kirche wurde auch viel geredet und gestritten über die Neuregelung von Abtreibung, also Paragraf 218 Strafgesetzbuch. Da hat die evangelische Kirche in diesem Jahr ihre Position geändert, kann man sagen. Der Rat der EKD hat sich für die Entkriminalisierung früher Abtreibungen ausgesprochen. Das ist, glaube ich, eine Entscheidung, die haben viele nicht verstanden. Ausgerechnet die Kirche rückt ab vom Schutz ungeborenen Lebens. Ist der evangelischen Kirche das nicht mehr wichtig? Ist die Anbiederung an den Zeitgeist wichtiger? Können Sie das erklären?
Dabrock: Ich habe mich in die Debatten selbst intensiv mit eingebracht. Ich habe mich dazu in den internen Diskursprozessen der EKD engagiert. Uns ist wahnsinnig viel am Lebensschutz gelegen. Wir glauben nur, dass wir nicht den Lebensschutz primär über eine Gesinnungsfrage und eine Kriminalisierung von Frauen in Not angehen sollten, sondern dass wir tatsächlich verantwortungsethisch von den Konsequenzen her betrachtet diese Herausforderung angehen sollten. Deswegen haben wir uns nochmal für verstärkte Beratung ausgesprochen und, dass das Umfeld der Schwangeren gestärkt werden soll, dass lebensfreundliche Perspektiven entwickelt werden sollen.
Sehr häufig denken wir Recht immer nur als Strafrecht. Wir haben sehr viel sozialrechtliche Alternativen vorgeschlagen. Wir wollen es nicht rechtsfrei stellen, wir wollen es nicht einfach in einem bindungs- und bedingungslosen Liberalismus gedeutet sehen, sondern wir wollen es stärker sozialrechtlich einbetten. Ich glaube, das gehört auch dazu, dass man nicht in so handelsüblichen Schemata denkt, sondern schaut, was andere mit einem gewissen Perspektivwechsel vertreten.
Aber ich habe auch festgestellt, dass auch von katholischer Seite viel reininterpretiert worden ist, was da nicht steht. Zum einen, dass wir kein Lebensschutz mehr haben wollten, ist nicht richtig. Und richtig ist auch nicht, dass der Rat der EKD einen Gradualismus im Lebensschutz vertreten würde. Das steht auch in dem Text nicht drin. Es steht vorsichtig drin, man kann darüber nachdenken, ob man einen Gradualismus im Rechtsschutz, das heißt aber nicht im moralischen Status des Embryos, vertritt. Das sind jetzt ein bisschen Detailsachen, aber es sind Sachen, die von der katholischen Kirche ganz stark gegenüber dieser Ratsauffassung eingebracht worden sind. Das Vorurteil kann man zurückweisen.
DOMRADIO.DE: Im November gab es dann noch eine spannende, aber auch die Lage der Kirchen schonungslos widerspiegelnde Studie. Alle zehn Jahre kommt sie raus, maßgeblich von der EKD gestaltet, zum ersten Mal auch mit der katholischen Kirche zusammen. Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung KMU. Gesunkene Kirchenbindung, kaum noch Vertrauen, hohe Austrittszahlen. War das aus Ihrer Sicht ein Weckruf? Oder war das nur eine weitere Feststellung, dass es doch schneller schwieriger werden könnte, für die evangelische Kirche als gedacht?
Dabrock: Ich bin ein bisschen hin und hergerissen. In gewisser Weise ist es keine Überraschung mehr auf der einen Seite und auf der anderen Seite tut es immer auch weh, wenn man es noch mal hört. Man hat so eine Grundstimmung und denkt ja, sieht nicht so gut aus und dann kriegt man es noch mal ganz dick, schwarz auf weiß.
Ich stelle fest, dass wir jetzt gerade in der evangelischen Kirche unglaubliche Kontroverse darüber haben, wie diese KMU auszulegen ist. Es gibt eine Gruppe von Theologinnen und Theologen, die massive methodische und konzeptionelle Kritik an dieser Kirchenmitgliedschaftuntersuchung durchführt und diejenigen, die sie durchgeführt haben, verteidigen sie mit Zähnen und Klauen. Ich begrüße sowas erst einmal. Ich kann mich selber noch gar nicht final einem der beiden Lager zuordnen, aber finde es klasse, dass wir überhaupt darüber debattieren, weil nur so kann man von ihnen auch angesprochene mögliche Konsequenzen in den Blick nehmen.
Es ist ein Weckruf und ich glaube, es ist nicht endgültig düster. Wie könnte ich das auch behaupten, wenn ich an die Botschaft des Evangeliums denke? Die trägt einen doch so, dass man immer die Hoffnung hat, die wird nicht untergehen. Gleichzeitig merke ich natürlich, dass wir echte Bodenpersonalprobleme haben. Das hinzubekommen, die tollste Botschaft der Welt zu haben und gleichzeitig Schwierigkeiten haben, die Botschaft auf die Straße zu bringen. Das muss einen beunruhigen. Da ringen wir, glaube ich, alle mit und hoffen, dass wir in 2024 weitere Schritte tun können.
DOMRADIO.DE: Auf der Synode in Ulm, auf der die Studie vorgestellt wurde, hat der Rücktritt von EKD-Ratspräsidentin Annette Kurschus alle weiteren Debatten überschattet, kann man sagen. Fanden Sie den Schritt nachvollziehbar oder kam das für Sie auch überraschend?
Dabrock: Mich hat das Ganze sehr betrübt. Das hat eine Eigendynamik in Ulm angenommen, die ich für ein Synodengeschehen für unwürdig erachtet habe. Man hat sich in von einem medialen Sog mitreißen lassen und hat die Chancen verstreichen lassen, die so eine institutionalisierte, durchchoreographierte Veranstaltung eigentlich bietet, aus erregten Debatten Luft rauszunehmen.
Das, was der frühere Vizepräsident der EKD, Horst Gorski, geschrieben hat, dass man sich an Prozeduren hält, dass man erst mal deeskaliert, dass man Zweitmeinungen hört und betrachtet. All das ist so nicht geschehen. Ich finde es sehr, sehr bedauerlich, dass angesichts einer unklaren Vorwurfslage, sicherlich auch einer nicht gelungenen Kommunikation in den Tagen der Synoden, eine Person, mit der sehr viele sehr zufrieden waren, so im Regen alleine stehen hat lassen. Das finde ich nicht angemessen. Ich schließe mich den Worten des leitenden Geistlichen der lutherischen Kirchen in Deutschland dem Bischof Meister an, der gesagt hat, das war erbärmlich und gnadenlos.
DOMRADIO.DE: Auf eine Sache müssen wir noch gucken, wenn wir Richtung 2024 gehen. Für die EKD steht die Missbrauchsstudie an. Welche Folgen könnten die Ergebnisse für die EKD haben?
Dabrock: Man wird auf jeden Fall einen schonungslosen Blick auf sexualisierte Gewalt befördernde Strukturen erwarten können. Und das ist etwas, was ich mir um der Glaubwürdigkeit der Botschaft und des Schutzes möglicher Betroffener wünsche. Dieser Blick kann und muss auch in der weiterführenden Debatte so stattfinden, dass es eine systematische Beteiligung der Betroffenen gibt. Das ist in jedem Fall geboten.
Zugleich müssen wir und ich glaube, das hat der Fall Kurschus gezeigt, auch schauen, dass wir Verfahren finden. Es müssen Standards des Rechtes in dieser schonungslosen Aufarbeitung für alle Beteiligten geben sein. Das, glaube ich, gehört auch zum Institutionen- und Vertrauensschutz hinzu. Und so wie ich es mitbekomme, sind da tatsächlich zwischen den Betroffenen und den jeweiligen Stellen in den Landeskirchen und der EKD sehr fruchtbare Gespräche.
Das Interview führte Elena Hong.