DOMRADIO.DE: In welchem Alter hast du die Brailleschrift gelernt? Wie lange hast du dafür gebraucht?
Nina Odenius (DOMRADIO.DE-Kollegin): Ich habe eine Regelschule besucht. Das ist eine ganz normale Grundschule, wo ich das einzige blinde Kind war. Meine Klassenlehrerin hat für mich die Brailleschrift gelernt. Sie konnte die mit den Augen lesen. Ich habe sie mit den Fingern lesen gelernt.
Ich habe in der ersten Klasse genau wie meine Mitschüler Schreiben gelernt. Die haben ihre Schrift gelernt. Ich habe meine Schrift gelernt. Am Ende der ersten Klasse konnte ich alle Buchstaben lesen. Das ist eben der Vorteil, wenn man die Brailleschrift sofort als Kind lernt. Ich kann gar keine andere Schrift lesen.
Das Problem entsteht erst, wenn man als spät erblindeter Mensch die Brailleschrift lernt. Es ist möglich, aber es ist schwieriger, weil man verschiedene Punkte ertasten muss. Diese Punkte ergeben in Kombination die Buchstaben. Das fällt einem als Kind leichter als einem Erwachsenen, der erst später lernt. Man liest als Geburtsblinder schneller und flüssiger als das spät erblindete Menschen lernen oder tun können.
DOMRADIO.DE: Auf die Frage, wie die Brailleschrift dein Leben verändert hat, antwortest du im Grunde genau das, was andere Kinder auch antworten würden: Ich konnte lesen.
Odenius: Ja, genau das. Ich habe es genossen, lesen zu können. Aber wie jedes andere Kind musste man mich erst ans Lesen heranführen. Es war nicht so, dass ich gesagt habe, jetzt kann ich endlich lesen und jetzt lese ich alle Bücher. Es hat gedauert bis ich ein Buch entdeckt habe, was mich zum lesebegeisterten Grundschulkind machte.
Es gibt jedoch nicht alle Bücher in Brailleschrift. Das muss man sagen. Ich habe immer gesagt, es ist mein Traum, dass ich in eine Buchhandlung gehen kann und sagen kann, ich hätte gerne dieses und jenes Buch, und dann kriege ich das. Es gibt aber spezielle Büchereien, die in Brailleschrift drucken, wo man Bücher bestellen kann.
Die haben auch viele Kinderbücher und viele Bestseller für Erwachsene. Es gibt schon eine große Auswahl, aber ich kann nicht in jede hiesige Bücherei in meinem Wohnort gehen und sagen, ich hätte jetzt gerne ein Buch in Brailleschrift. Das ist einfach der Punkt, den man ansprechen muss.
DOMRADIO.DE: Die Schrift besteht aus Punkten. Zimmertüren in Hotels sind zum Beispiel häufig mit Brailleschrift beschriftet. Kannst du das Prinzip noch mal erklären?
Odenius: Das ist eigentlich ganz einfach. Man muss sich die Punkte von einer Sechs auf einem Würfel vorstellen. Es gibt dann verschiedene Kombinationen. Das heißt, wenn du den oberen linken Punkt hast, ist das ein A. Der obere linke Punkt und der linke Punkt in der Mitte ist ein B. Dann geht das so weiter.
Die einzelnen Kombinationen muss man auswendig lernen. Wenn man das Prinzip einmal verstanden hat, ist das einfach. Das Schwierige am Ende ist, die Punkte zu fühlen und die Kombinationen zu erkennen.
DOMRADIO.DE: Wie funktionieren Zeichnungen? Kann man so was auch in Schrift übersetzen oder Mathematik? Geometrische Formen funktioniere wahrscheinlich in Brailleschrift nicht so gut, oder?
Odenius: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man zeichnen kann. Dadurch, dass ich auf einem normalen Gymnasium war, hatte ich immer das gleiche Lernziel wie ander Schulkinder. Das heißt, ich musste Geometrie machen und auch zeichnen.
Dafür gibt es eine spezielle Folie, die man auf so ein Holzbrett legt. Darauf kann man mit dem Kugelschreiber zeichnen. Da sind die Linien fühlbar. Es gibt auch Lineale, die mit Bleistift versehen sind, so dass man auch als Blinder zeichnen kann.
Diese Lineale werden mit Nadelstichen in das Brett gepinnt, damit die halten. Damit kann man gerade Linien zeichnen, obwohl ich sagen muss, meine Linien in Geometrie waren nie gerade und meine Noten waren immer schlecht. Aus mir ist trotzdem etwas geworden.
DOMRADIO.DE: Es gibt Blindenhund, blinden Leitsysteme und mittlerweile auch viele digitale Hilfsmittel für nicht sehende Menschen. Im Zusammenspiel all dieser Möglichkeiten, welche Rolle spielt die Brailleschrift noch für dich?
Odenius: Für mich spielt sie eine große Rolle, weil ich es wichtig finde, Dinge selbstständig lesen zu können. Natürlich liest die Sprachausgabe viele Dinge vor und man ist auch in manchen Situationen mit Sprachausgabe schneller. Es ist aber was anderes, wenn man Dinge nur hört, als wenn man sie selber liest. Das geht auch sehenden Menschen so.
Ich arbeite immer mit Brailleschrift und Sprachausgabe, weil ich die Gewissheit haben möchte. Wenn mir Dinge wichtig sind, kann ich sie selbst nochmal lesen. Ich möchte sie unter dem Finger haben, um einfach auch die Schreibweise von Namen oder speziellen Wörtern selbstständig lesen zu können.
Deswegen finde ich es sehr wichtig, die Brailleschrift zu erhalten und auch weiter an Blindenschulen zu unterrichten, weil sie den Kindern und auch den erwachsenen blinden Menschen die Möglichkeit gibt, selbst zu lesen. Damit eröffnet sie uns die Tür zur Welt.
Das Interview führte Tobias Fricke.