Nach der Vorstellung der bundesweiten Missbrauchsstudie für die evangelische Kirche kommen weitere Details zur Datengrundlage ans Licht. Die einzige Landeskirche, deren vollständige Personalaktenanalyse in die Studie eingeflossen ist, ist nach eigenen Angaben die Evangelisch-reformierte Kirche mit Sitz im ostfriesischen Leer.
Ein Sprecher der Kirche bestätigte am Montag einen entsprechenden Bericht des Online-Magazins "Die Eule". Das Verfahren sei so mit den Autoren der Studie abgestimmt gewesen.
19 von 20 Landeskirchen hielten Vereinbarung nicht ein
Die erste bundesweite Missbrauchsstudie für evangelische Kirche und Diakonie war vergangene Woche in Hannover vorgestellt worden. Demnach finden sich in kirchlichen Akten Hinweise auf mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte in den Jahren 1946 bis 2020.
Die Autoren kritisierten allerdings, dass 19 von 20 Landeskirchen entgegen der ursprünglich getroffenen Vereinbarung nur die weniger aussagekräftigen Disziplinarakten und nicht die wesentlich größere Menge der Personalakten ihrer Geistlichen ausgewertet hatten. Nur mit einer Landeskirche habe eine vollumfängliche Durchsicht der Personalakten vereinbart werden können. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass bundesweit in den kirchlichen Akten weit höhere Zahlen nachzuweisen sind.
Evangelisch-reformierte Kirche wertete alle Personalakten aus
Die Evangelisch-reformierte Kirche ist eine der kleinsten Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie habe sämtliche Personalakten von Pfarrern, die zwischen 1946 und 2020 in einem Dienst- oder Ruhestandsverhältnis standen, auf Hinweise von sexualisierter Gewalt gegenüber Minderjährigen überprüft, so der Sprecher. Dabei handele es sich um rund 800 Akten: "Bei uns war dieser Weg möglich, weil alle Akten direkt zugänglich waren."
Die Kirche hat laut dem Sprecher 10 Fälle sexualisierter Gewalt an den Forschungsverbund gemeldet, in denen eine Person verdächtigt oder beschuldigt wurde. 13 betroffene Personen seien mit diesen Fällen verbunden.
Zusätzliche Analyse würde Zahlen erhöhen
In der Studie heißt es, die zusätzliche Analyse der Personalakten in der einen - dort nicht genannten - Landeskirche zeige, dass in den Disziplinarakten und anderen ausgewerteten Quellen rund 60 Prozent der Beschuldigten und 70 Prozent der Betroffenen nicht erfasst waren. Eine Hochrechnung dieser Quoten auf alle Landeskirchen ergibt fast 10.000 Betroffene und rund 3.500 Beschuldigte, die in ihren Akten verzeichnet sein könnten. Diese Hochrechnung müsse jedoch aus verschiedenen Gründen mit Vorsicht betrachtet werden, so die Forscher.
Zur Evangelisch-reformierten Kirche gehören knapp 160.000 Mitglieder. Ihre 143 Gemeinden sind über das ganze Bundesgebiet verteilt. Die meisten liegen im westlichen Niedersachsen und in Bayern.