Religionssoziologe ordnet EKD-Studie in Gesamtkontext ein

Missbrauch lange für katholisches Problem gehalten

Sexualisierte Gewalt hat laut des Religionssoziologen Detlef Pollack vor allem als katholisches Problem gegolten. Die Ergebnisse der "ForuM"-Studie zeigten aber, dass die evangelische Kirche nicht besser dastehe als die katholische.

EKD-Missbrauchsstudie / © Daniel Pilar (KNA)
EKD-Missbrauchsstudie / © Daniel Pilar ( KNA )

epd: Wie bewerten Sie die Dimension der veröffentlichten Fälle in der evangelischen Kirche? Überrascht Sie das Ergebnis?

Religionssoziologe Detlef Pollack (WWU – MünsterVIEW)

Detlef Pollack (Religionssoziologe): Die Ergebnisse der ForuM- und der MHG-Studie für die evangelischen und für die katholische Kirche sind schwer miteinander vergleichbar. Letztere bezog nur Geistliche ein, in der ForuM-Studie wurden aber auch kirchliche Angestellte und Mitarbeiter untersucht.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass für den Gesamtzeitraum nur Hochrechnungen auf der Grundlage der Disziplinarakten vorliegen.

Vertraut man den Hochrechnungen, dann kann man sagen: Die Zahl der beschuldigten Geistlichen im katholischen und evangelischen Bereich entspricht sich in etwa. Das heißt, die evangelische Kirche steht hier nicht besser da als die katholische.

epd: Wo sehen Sie Strukturen in der evangelischen Kirche; die zu Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt führen können?

Detlef Pollack

"Im Unterschied zur katholischen Kirche gibt es in der evangelischen Kirche aber stärker das Problem der Verantwortungsdiffusion."

Pollack: Immer wieder sind es Abhängigkeitsverhältnisse, die sexualisierte Gewalt begünstigen. Im Unterschied zur katholischen Kirche gibt es in der evangelischen Kirche aber stärker das Problem der Verantwortungsdiffusion. Die Folge ist, dass Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, im evangelischen Raum oft nicht die Ansprechstelle finden, die für die Bearbeitung ihrer Probleme Verantwortung übernimmt.

epd: Halten Sie den Umgang der evangelischen Kirche mit dem Thema für ausreichend?

Pollack: Die evangelische Kirche bemüht sich seit Jahren um die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen. Sie hat am Runden Tisch Sexueller Missbrauch mitgearbeitet, Vereinbarungen mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs getroffen, Fachstellen für den Umgang mit sexualisierter Gewalt in den Landeskirchen eingerichtet. Über längere Zeit hat man das Thema wohl vor allem für ein katholisches Problem gehalten. Inzwischen sagen aber die Verantwortlichen in der evangelischen Kirche, sie seien erschüttert von den Fakten, sprechen sie vom Versagen der Kirche und bekennen, dass sie bestürzend viel falsch gemacht haben.

epd: Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Studie auf die evangelischen Kirchen ein?

Pollack: Die Missbrauchsfälle und der Umgang der Kirchen mit ihnen sind einer der wichtigsten Gründe für den Austritt aus der Kirche. Das wissen wir aus Befragungen. Es ist anzunehmen, dass die Ergebnisse der Studie dazu beitragen werden, dass viele Menschen sich zum Austritt entschließen.

Das Interview führte Holger Spierig.

Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche

Die Zahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche und Diakonie ist viel höher als bislang angenommen. Laut einer Studie sind seit 1946 in Deutschland nach einer Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden. Die Zahl der Beschuldigten liegt bei 3.497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrpersonen, also Pfarrer oder Vikare. Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Missbrauchsopfern aus. Die Forum-Studie wurde von einem unabhängigen Forscherteam erarbeitet und in Hannover veröffentlicht.

Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr (dpa)
Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr ( dpa )
Quelle:
epd