Spielt es eine Rolle, ob kirchlicher Kindesmissbrauch in einer Diktatur oder einer Demokratie geschieht? Ging die evangelische Kirche in der DDR anders mit solchen Fällen um, als in der BRD? Und welche Relevanz spielte das jeweilige Staats-Kirchen-Verhältnis? Diesen Fragen geht ein Teilprojekt der neuen bundesweiten Missbrauchsstudie für die evangelische Kirche nach. Es analysiert den Einfluss der unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Umstände auf Entstehung und Umgang mit sexualisierter Gewalt.
Beeinflussung ja, Prägung nein
Während im volkskirchlich geprägten Westen die Kirchen ein anerkannter und relevanter Player waren, waren sie im Osten in der Minderheit und den Druckmitteln des anti-kirchlichen SED-Regimes ausgesetzt. Wie die Studie zeigt, beeinflusste der politische Rahmen der Diktatur mit ihrem Stasi-Apparat und allen Repressalien die Ausübung von sexueller Gewalt und den Umgang damit – ohne sie aber ganz grundsätzlich zu prägen.
Neben den zur Verfügung gestellten Akten der Landeskirchen sichtete und analysierte die Forschergruppe auch zahlreiche Stasi-Unterlagen. Dabei stellte sie fest, dass manche, teils bis heute gängigen Deutungen schlicht falsch seien. Die Stasi und ihre vermeintlich allumfassende Überwachung habe sexualisierte Gewalt weder unmöglich gemacht, noch eingedämmt.
Täter waren auch Spitzel
Im Gegenteil: Pfarrer, die auch als Spitzel tätig waren und während dieser Zeit Minderjährige missbrauchten, wurden teils sogar vom Ministerium für Staatssicherheit geschützt. Aus den Akten rekonstruierten die Forscher Fälle, in denen vermeintliche Täter unter staatlicher Mitwirkung versetzt wurden, damit sie weiter als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) Informationen liefern konnten. In Einzelfällen – aber nicht systematisch – seien Beschuldigte auch erpresst worden, im Gegenzug für Straffreiheit als Spitzel zu arbeiten. Vieles ist der Stasi laut Studie in diesem Bereich aber auch verborgen geblieben. So konnten die Forscher nicht feststellen, dass es eine systematische Erfassung von Missbrauch in der evangelischen Kirche durch das SED-Regime gab, und der Umgang mit bekannten Fällen sei ambivalent gewesen.
Tabuisierungsthese widerlegt
Ebenfalls eine Absage erteilten die Forscher der These von der "doppelten Tabuisierung" – dass über Missbrauch nicht nur allgemein, sondern auch wegen der Stasi-Überwachung und der Repressionen nicht gesprochen werden konnte. In den verschiedene Quellen sei teils sehr deutlich von sexualisierter Gewalt die Rede gewesen, ohne dass es als Tabuthema markiert wurde. Die Forscher äußern die Vermutung, dass die Tabuisierungsthese – deren Entstehung zwischen Wende und Gegenwart anzusiedeln sei – eine Schutzbehauptung sei, die einerseits auf dem positiven Bild der evangelischen Kirche als Hort der Opposition und Motor der friedlichen Revolution rekurriert, andererseits zur eigenen Entlastung auf eine Dämonisierung des SED-Staates setze.
In den Interviews mit ostdeutschen Betroffenen habe, so die Forscher, die DDR-Gesellschaft als Faktor für sexualisierte Gewalt oder den Umgang damit kaum eine Rolle gespielt. Hintergründig seien das SED-Regime und seine anti-kirchlichen Praktiken allerdings dann sichtbar geworden, wenn die Betroffenen über ihre stark kirchlich geprägte Lebenswelt berichteten, die sich in einer klaren Unterteilung von "Innen" und "Außen" gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft richtete.
Ähnlich Muster im Osten und Westen
Die Studie stellt zugleich gemeinsame Muster heraus, die die Taten in beiden deutschen Staaten verbinden: die Anbahnungsstrategien, die Beziehung zwischen Täter und Opfer, die theologisch-religiöse Begründung und Verbrämung des Missbrauchs sowie die besondere Bedeutung der Jugendarbeit als Tatumfeld. In diesen Gemeinsamkeiten zeige sich, dass die Mechanismen sexualisierte Gewalt wirkmächtiger seien als der politische und gesellschaftlich Rahmen.
Insgesamt bestätigt sich mit der evangelischen Studie Vieles, was in Ansätzen im März 2023 in der Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche in Mecklenburg-Vorpommern zutage trat. Die Untersuchung unter Leitung der Ulmer Psychiaterin Manuela Dudeck beleuchtete als Erste Missbrauch in der Kirche zur DDR-Zeit.