DOMRADIO.DE: 2023 haben mehr Missbrauchsbetroffene in der katholischen Kirche sogenannte Anerkennungsleistungen von über 50.000 Euro erhalten. Das geht aus dem am Freitag in Bonn vorgestellten Jahresbericht der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) hervor. Demnach bewilligte das Gremium im vergangenen Jahr in rund zehn Prozent aller Fälle Summen jenseits dieser Schwelle. Zuvor lag dieser Anteil bei rund acht Prozent. Für Sie ein positives Zeichen?
Jens Windel (Betroffenenbeirat bei der DBK): Für mich ist es immer noch ein sehr schwaches Zeichen, weil das gerade einmal eine Steigerung von zwei Prozent der Fälle ist, denen mehr als 50.000 Euro zugesprochen wird. Das ist immer noch nur ein Sechstel von dem, was das Landgericht Köln Georg Menne im vergangenen Jahr zugesprochen hat. (Menne hatte das Erzbistum Köln verklagt, nachdem er in den 1970er Jahren von einem Priester hunderte Male missbraucht worden war. Das Gericht sprach ihm ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro zu. Die UKA hatte ihm eine Anerkennungsleistung von 25.000 Euro zugesprochen, Anm. d. Red.)
Ich denke, da ist noch Luft nach oben, von daher ist das für mich nicht positiv. Wenn man anders rechnet, sieht es so aus: Bei den 3.493 Anträgen, die seit Beginn des Verfahrens 2021 bei der UKA eingegangen sind, wurde insgesamt eine Summe von 56.982.000 Euro ausgezahlt. Durchschnittlich hat also jeder Betroffene nur knapp 16.000 Euro erhalten. Das ist weit entfernt von dem, was Menne vom Gericht zugesprochen wurde.
DOMRADIO.DE: Die seit dem 1. Januar 2021 tätige Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen hat die Aufgabe, darüber zu entscheiden, wie viel Geld Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche in Anerkennung des ihnen zugefügten Leids erhalten. Immer wieder wurde das von Betroffenen kritisiert, warum?
Windel: Es ist eine absolute Black Box. Man weiß nicht, wer es bearbeitet hat und wie diese Summen zustande gekommen ist. Welches Gewicht hatten einzelne Punkte, wie etwa die Schwere der Tat oder das institutionelle Versagen?
Wenn man eine Auskunft haben möchte, bekommt man kaum weiterführende Informationen. Und wie die UKA-Vorsitzende Margarete Reske in der Pressekonferenz am Freitag gesagt hat, wird auch nicht dokumentiert, wie diese Summen ermittelt wurden. Das halte ich für ganz, ganz schwierig.
Zudem kommen die Betroffenen selbst nur unter erschwerten Bedingungen an ihre Akten heran, wenn sie Einsicht nehmen wollen. Zum Teil müssen sie dafür in andere Bistümer reisen. Wogegen sollen wir Widerspruch einlegen, wenn wir keine Begründung dafür haben, wie diese Summe X zustande gekommen ist? Zudem sind die Summen immer noch viel zu niedrig, es sind Bruchteile von den 300.000 Euro, die Menne zugesprochen wurden.
In der Pressekonferenz wurde betont, man orientiere sich an Gerichtsurteilen, die aber gar nicht vergleichbar sind, denn wir haben es hier nicht mit klassischen Gerichtsurteilen zu tun, wo es institutionelles Versagen gab, wo Missbrauch immer wieder begünstigt wurde, wie mit den Betroffenen umgegangen wurde.
Es ist nicht vergleichbar. Auch wenn es kein Schmerzensgeld ist, muss es ähnlich wie Schmerzensgeld angefasst werden. Da gehören für mich auch die Persönlichkeitsrechte, die verletzt wurden, mit rein.
DOMRADIO.DE: Sie sind selbst als Messdiener von ihrem damaligen Pfarrer über mehrere Jahre hinweg vergewaltigt worden. Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit der UKA gemacht?
Windel: Ich habe insgesamt vier Anträge gestellt, zwei bei der zentralen Koordinierungsstelle. Die Antworten waren wirklich bagatellisierend, das muss man ganz klar so sagen. Sie waren unwürdig und haben mir ein Gefühl von Wertlosigkeit gegeben.
Auch mein Antrag bei der UKA wurde nicht so beschieden, wie ich mir das gewünscht habe. Ich bin dann erneut mit meinem Bistum ins Gespräch gegangen und wir haben einen weiteren Antrag gestellt. Es ist immer noch bagatellisierend, weil die Schwere des Missbrauchs nicht erkannt wird.
DOMRADIO.DE: Weil Sie finden, dass die Summe, die Ihnen zugesprochen wurde, nicht dem entspricht, was Sie erlitten haben und an Folgeschäden hatten?
Windel: Die Summe spiegelt die Folgeschäden in keiner Weise wider. Wir als Betroffene haben darauf vertraut, was man uns versprochen hat. Nämlich dass man alle Kriterien berücksichtigen werde, wie die Häufigkeit, das Alter, ob ein institutionelles Versagen vorlag, ob mit Gewalt vorgegangen wurde und so weiter.
Man hat angekündigt, dass man im Einzelfall auch über 50.000 Euro gehen würde, wenn eine besondere Schwere des Falles vorliegt. Es liegt immer eine besondere Schwere vor, wenn es bei Minderjährigen zum Eindringen in Körperöffnungen kommt. Wenn das alles keine Berücksichtigung findet, dann ist es falsch bewertet und bagatellisierend.
DOMRADIO.DE: Wie lässt sich das erklären? Will die UKA die Summen möglichst niedrig halten?
Windel: Ich habe schon oft kritisiert, dass diese Kommission sich "unabhängig" nennt. Ich vergleiche das immer so: Wenn ich meinen besten Freund beauftrage, ein Gutachten über mein Fahrzeug zu erstellen, dann kann ich davon ausgehen, dass es für mich positiv wird.
Ähnlich sehe ich das bei der UKA. Man darf nicht vergessen, dass diese Kommission beim Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) angesiedelt ist und die Vorgaben von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) kommen. Die UKA kann nicht wirklich frei entscheiden und Rahmen zu setzen.
Das hat man gesehen, als sie kürzlich einem Betroffenen 150.000 Euro Entschädigung zugesprochen hat und das Bistum Augsburg sich zunächst weigerte, diese Summe zu zahlen. Das ging wieder mit gesundheitlichen Belastungen für den Betroffenen einher, der um diese Summe kämpfen musste.
Wir müssen immer wieder auf die Institution, die das mitzuverantworten hat, zugehen und uns offenbaren. Es ist absurd, dass wir unser Erlebtes bei der "Täterorganisation" erklären müssen.
DOMRADIO.DE: Ist dieses System denn reformierbar oder müsste es ganz anders laufen?
Windel: Ich würde mir wünschen, dass wir das System genauer anschauen und zusammen mit der UKA und der DBK Verbesserungen erzielen. Vermutlich werden Gerichte auch künftig ähnlich entscheiden wie in dem Kölner Fall. Aber einfach nur abzuwarten und zu schauen, was bei diesen Gerichtsurteilen rauskommt, um dann zu handeln, halte ich für unangemessen, wenn man vorgibt, verantwortungsbewusst mit den Betroffenen umzugehen. Dazu gehört ein Einlenken.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.