DOMRADIO.DE: Ist die Debatte über die Höhe von Zahlungen an Missbrauchsbetroffene auch für Sie beendet?
Johannes Norpoth (Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz): Eigentlich fängt sie gerade erst an. Aber das, was Augsburg da gezeigt hat, ist bis jetzt tatsächlich ein einmaliger Vorgang im Kontext des UKA-Verfahrens (Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen, d. Red.), so wie wir es jetzt haben.
Die Diskussionsansätze im Nachgang - nachdem man womöglich auch unter dem öffentlichen Druck nachgebend die 150.000 Euro entsprechend dem Beschluss der UKA nun endlich auskehrt – zeigen eindeutig: Man möchte schlicht und ergreifend nicht so viel Geld zahlen.
DOMRADIO.DE: Laut Unabhängiger Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) müssen Bistümer und Orden ab einer Summe von 50.000 Euro zustimmen. In diesem Rahmen bewegte sich das Bistum Augsburg mit seinem anfänglichen Widerspruch und begründete die Ablehnung damit, dass die finanziellen Möglichkeiten der Bistümer nicht außer Acht gelassen werden dürften. Dies sei auch im Interesse der Betroffenen. Was denken Sie? Auch in Ihrem Interesse?
Norpoth: Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll über eine solche Argumentationslinie. Ich bin auch teilweise selbstständig tätig. Wenn ich an dieser Stelle mit meinem Unternehmen einen Schaden verursache, dann ist das überhaupt nicht die Frage, in welcher Höhe mein Cashflow gerade ist, ob ich einen entsprechenden Schaden, den ich angerichtet habe, mit dem mir zur Verfügung stehenden Vermögen gegebenenfalls ausgleiche.
Schaden ist Schaden und wird an den festzustellenden Folgen des Opfers, also des Geschädigten, ermittelt. Und nicht an der Frage, wie viel Geld Augsburg in der Kasse hat. Solange deutsche Bistümer und insbesondere Bischöfe nicht offen über ihre tatsächlichen Vermögenswerte sprechen, wie sie es gerade aktuell tun, solange werde ich jedes Argument oder jede Richtung, die dahin geht, dass sie nicht so viel zahlen können, entweder mit einem Lächeln oder aber mit einem unverständlichen Kopfschütteln beantworten.
Das kann und wird kein Gegenstand irgendeiner Betrachtungsweise aus der Sicht eines Betroffenen sein.
DOMRADIO.DE: Jetzt sind natürlich die Finanzpolster der Bistümer in der Tat unterschiedlich. Und es ist ja wahrscheinlich auch damit zu rechnen, dass es weitere Klagen gibt. Der Widerspruch aus Augsburg war der erste Fall dieser Art. Glauben Sie, dass es auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Finanzsituationen in den Bistümern und auch Orden weitere Widersprüche geben wird? Oder ist der moralische Druck dafür doch zu hoch?
Norpoth: Das ist schwierig zu beurteilen. Ich fand die Reaktion des Sekretariats der Bischofskonferenz gestern spannend und bemerkenswert – mit der Maßgabe: Nein, wir wollen kein grundsätzliches Urteil. Das, was jetzt im Kontext des Vorgangs im Bistum Augsburg passiert ist, war allen, die wussten, was sie da entscheiden, damals klar, dass das passieren würde. Es gab bis zum Urteil des Kölner Landgerichts im Fall Menne kein wirkliches vergleichbares Referenzurteil. Genau das ist aber jetzt passiert.
Insofern mussten sich insbesondere bei einer ähnlichen Fall- und Folgenlage wie bei Georg Menne die Bescheide der UKA sich nach oben entwickeln, weil der Referenzrahmen sich verändert. Mit jeder weiteren Entscheidung, die in einer ähnlichen Höhe – mitunter sogar höher – ausfällt, wird sich dieser Referenzrahmen weiter nach oben verschieben.
Das ist eine grundsätzliche Problematik, die wir haben, denn das Anerkennungssystem mit der UKA definiert als Anspruchsschwelle eine Plausibilitätsprüfung. Wir reden hier nicht von der Vorlage gerichtsfester Beweise, weil sie im Regelfall nicht vorliegen.
Das hat auch was mit der Verschleierungstaktik und den Verschleierungsmaßnahmen und Aktionen der Bistümer zu tun. Wenn keine Unterlagen mehr da sind, sind sie einfach als Opfer nicht in der Lage, Dinge gerichtsfest nachzuweisen. Deshalb ist diese Plausibilität als niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit zu Leistungen so eminent wichtig im Kontext der Betroffenenorientierung.
Umso mehr ist es nachvollziehbar, wie von Seiten der Bistümer versucht wird, genau diese Grenze so zu nutzen, dass die Beträge sinken. Das ist einfach so. Dieser Entwicklung muss man ins Auge sehen. Ich bin gespannt, wie der Ständige Rat nächste Woche tagt, der sich auch noch sinnigerweise in Augsburg trifft. Inwiefern diese Diskussion der Deutschen Bischofskonferenz tatsächlich Bestand haben wird, das muss man sehr sensibel beobachten.
DOMRADIO.DE: Das Bistum Augsburg hat dann doch noch eingelenkt und diese Grundsatzdebatte gewünscht, die jetzt von der Deutschen Bischofskonferenz abgewiesen worden ist. Aber denken Sie, dass dieses Thema jetzt entweder beim Ständigen Rat, der in Augsburg tagen wird, oder bei der nächsten Vollversammlung noch mal zur Sprache kommen wird?
Norpoth: Mir wäre lieb, wenn wir über dieses Thema mal gemeinsam ins Gespräch kommen würden: die bischöfliche Fachgruppe, die es ja jetzt gibt und der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz.
Den Austausch öffentlicher Positionen gibt es entweder über Stellungnahmen oder Interviews wie hier, wofür wir als Betroffene sehr dankbar sind oder über schriftliche Stellungnahmen und Briefe an die Bischofskonferenz, die wir schon reichlich geschrieben haben mit Veränderungs- und Entwicklungsvorschlägen.
Mir wäre lieb, wenn wir uns statt dieser Kommunikationsformen einfach mal einen Tisch setzen könnten, um in echte Verhandlungen zu finden, um endlich zu einer gemeinsam getragenen und langfristig getragenen Lösung zu kommen.
Nichts ist ermüdender, auch für Betroffene, als immer in dieser Ungewissheit zu sein: Was passiert jetzt? Was lassen sich die anderen als Nächstes einfallen? Man muss ehrlicherweise sagen: Augsburg hat auch dazu geführt, das ohnehin schon brüchige Vertrauen in dieses Anerkennungssystem noch mal nachhaltig auf Seiten der Betroffenen zu schwächen. Das ist einfach so.
Ich würde mir wünschen, endlich in wirkliche Gespräche und echte Verhandlungen zwischen Bischöfen und Betroffenen zu kommen. Und ich will keine Diskussionen hinter verschlossenen Türen.
DOMRADIO.DE: Nächste Woche Donnerstag veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland ihre eigene Missbrauchsstudie. Mit welchen Erwartungen blicken Sie auf diesen Termin?
Norpoth: Erwartungen sind schwer. Auf der katholischen Seite war die MHG-Studie eine Art Initialzündung, mindestens dahingehend, dass klar wurde und allen ins Bewusstsein kam, das sexualisierte Gewalt im Raum der katholischen Kirche kein temporäres Problem ist.
Ich glaube, das haben viele Verantwortliche sowohl im klerikalen als auch nicht-klerikalen Bereich immer noch bis zur MHG-Studie gehofft. Die nachfolgenden diözesanen Studien haben gezeigt, dass die Annahmen, die Fragen, die die MHG-Studie gestellt hat, genau die richtigen waren und es genau um systemische Ursachen geht.
Insofern kann ich für die Betroffenen in der evangelischen Kirche nur hoffen, dass es auch da zu einer solchen Initialzündung kommt und dass sich auch dieser Teil der christlichen Kirche in dieser Nation auf den Weg zu noch mehr Aufarbeitung macht, zu noch mehr Betroffenenorientierung, aber auch zu Anerkennung des Leids ähnlich wie auf der katholischen Seite.
Solche Studien bringen immer bei dem einen oder anderen eine Bewusstseinsänderung hervor und begleiten das. Insofern glaube ich, dass das ein wichtiger Punkt für die evangelische Kirche in Deutschland ist. Da muss man gucken, wie die Institutionen und die Verantwortlichen im Nachgang reagieren.
Man muss allerdings auch deutlich sagen: Nichts ist schlimmer, als wenn es ab nächster Woche Donnerstag wieder diese gebetsmühlenartige Entschuldigung gibt, wie schlimm doch alles ist. Ich hoffe für die evangelischen Mitchristinnen und -christen, dass sie da auch entsprechend ins Handeln kommen.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.