DOMRADIO.DE: Was gab den Anlass, sich im Rahmen dieses Forschungsprojektes mit Ritualisierungen zu befassen, die im Kontext der Seelsorge für Menschen mit psychischer Erkrankung und Behinderungen angelegt sind?
Prof. Dr. Andreas Odenthal (Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn): Die strukturellen Veränderungen der Kirche, gerade bei der derzeitigen Neukonzeption "Pastoraler Einheiten", bergen die Gefahr, die Felder der kategorialen Seelsorge als innovative Räume aus dem Blick zu verlieren. Die Seelsorge für psychisch kranke Menschen wie auch für Menschen mit Behinderung eröffnet solche Räume. Hier ereignen sich Begegnungen, die im Projekt noch einmal aus einer anderen Perspektive wahrgenommen werden und zu einer neuen Praxis führen können. Das gilt auch für gottesdienstliche Feiern in allen ihren Ausführungen.
Das Projekt untersucht, welche Vielfalt an religiösen Ritualen hier sowohl angeboten wird als auch im Kontakt der Menschen mit den Seelsorgerinnen und Seelsorgern neu entsteht. Dabei treten unterschiedliche theologische Disziplinen, vor allem Liturgiewissenschaft und Pastoralpsychologie, in den Dialog mit den alltäglichen Erfahrungen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern aus der Praxis. Neben den im Interview Genannten sind das GR Hiltrud Höschler, GR Sr. Daisy Panikulam und PD Dr. Wolfgang Reuter.
Das Besondere des Projektes ist diese Vernetzung von Praxis und Wissenschaft: Theologinnen und Theologen aus seelsorglicher und universitärer Praxis haben das Projekt ganz bewusst miteinander im Feld kategorialer Seelsorge mit psychisch kranken oder behinderten Menschen entwickelt. Hiermit bringen wir zum Ausdruck, dass universitäre Theologie immer mit kirchlicher Praxis zu tun hat.
Praxis und Wissenschaft verändern und bereichern sich in diesem Kontakt, ebenso das Selbstverständnis aller Beteiligten in ihren unterschiedlichen Rollen und Funktionen. Zwei Besonderheiten des Projektes seien noch benannt: Die supervisorische Begleitung der Projektgruppe durch Klaus Felder (DGSv) sowie eine Lehrveranstaltung an der Universität Bonn mit einer neuen Methodik von Lehren und Lernen.
DOMRADIO.DE: Ihr Projekt trägt den Titel "Liturgien an AndersOrten". Sie sprechen von der Liturgie im Plural und von den AndersOrten. Was ist damit gemeint?
Odenthal: Neben den klassischen liturgischen Feldern interessieren uns besonders die vielen Formen jenseits kirchenamtlich geregelter Liturgie: Welche Ritenkompetenz bringen die Menschen dort selber mit? Wie werden sie rituell aktiv? Welche rituellen Erfahrungen benötigen sie in ihren besonderen Lebenssituationen? Welche Konfliktzonen zwischen objektiv Vorgegebenem und subjektiv Erfundenem tun sich auf, und wie gehen wir damit um?
Deshalb geht es nicht allein um "die" Liturgie, sondern um plurale und auch neue Formen von Liturgien im Raum der Katholischen Kirche, wie auch in neuen, bisher so nicht in den Blick genommenen anderen Räumen. Hier sprechen wir dann von AndersOrten. Die Bereiche der kategorialen Seelsorge eignen sich hierfür besonders gut, weil sie solche AndersOrte sind: Mehr noch als in einer Pfarrgemeinde geht es hier um konkrete und oft unerwartete Situationen von Beziehung in der Seelsorge. Sie bringt auch eine besondere Ausprägung von Ritualen mit sich und erfordert oftmals Bereitschaft zur Spontaneität bei den Seelsorgerinnen und Seelsorgern.
DOMRADIO.DE: Es geht dabei einmal um die traditionell angebotenen rituellen Formen, aber auch um selbst gestaltete Rituale mitten im Alltag. Was sind Ihre Erfahrungen aus Gottesdiensten gemeinsam mit Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung?
Franz-Josef Haas (Pfarrer in der Psychiatrieseelsorge und Seelsorger für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung im Erzbistum Köln): Meine besondere Erfahrung ist hier – neben aller Planung – die Spontaneität im Ereignis des Gottesdienstes. In Planung und Spontaneität entstehen schließlich Feierformen, die zu diesen Menschen passen. Zu beachten ist hierbei vor allem deren Aufmerksamkeitsspanne. Dies erfordert eine besondere, die so genannte Leichte Sprache: Sie ist eine wesentliche und klare Sprache. Musik und Rhythmus bieten einen strukturellen Rahmen, der Lebendigkeit und Gemeinschaft ermöglicht und Erinnerungsspuren wachruft.
In diesem Zusammenhang ist mir die Bedeutung konkreter Dinge wichtig: Beim letzten Weihnachtsgottesdienst zum Beispiel bekamen alle Teilnehmenden einen Strohstern in die Hand. Ich lerne von den Menschen, Rituale müssen "handgreiflich" sein – jederzeit.
DOMRADIO.DE: Ein Fazit von Ihnen lautet, dass Menschen mit Behinderung durch ihre Eigenart unsere eigenen Behinderungen spiegeln. Welche Behinderungen sind das?
Haas: Da stellen Sie mir aber eine komplexe Frage. Ich möchte meine Einstellung verdeutlichen, die sich durch meine Arbeit mit Menschen mit Behinderung im Laufe der Jahre verändert hat. Inzwischen frage ich mich, wer eigentlich behindert ist: diejenigen mit einer körperlich/geistigen Einschränkung oder die vermeintlich Gesunden? Im Kontakt mit Menschen, die eine geistige oder körperliche Beeinträchtigung haben, erfahre ich oftmals Offenheit, Spontaneität, Kreativität und Freude.
Ich kenne es natürlich auch anders, und möchte die körperlich/geistigen Einschränkungen auf keinen Fall beschönigen. Aber Menschen mit Begrenzungen dürfen nicht einseitig defizitär gesehen werden. Ich erlebe sie häufig als ein korrigierendes Gegenüber. Sie halten mir einen seelischen Spiegel vor. Es braucht Mut, in diesen Spiegel zu schauen.
Im Kontakt mit Menschen mit Behinderungen erfahre ich sehr viel spontane Zuneigung, Offenheit und Freude, die mir neu einen Blick für das Schöne und Unerwartete im Leben schenken. Das erlebe ich als erfüllend und bereichernd. Dem gesellschaftlichen Drang, den Menschen zu optimieren und zu perfektionieren, können Menschen mit geistiger und körperlicher Einschränkung etwas entgegensetzen: Sie erinnern uns daran, dass das Leben zerbrechlich ist und gerade deshalb ein Grund zur Freude.
DOMRADIO.DE: Rituelle Begegnungen können überall stattfinden und sind je nach Person und Biografie mal mehr und mal weniger katholisch geprägt. Welche Herausforderungen und Chancen, welche neuen Impulse gibt es da bei Menschen mit Behinderungen und psychischer Erkrankung für die Theologie und für die Praxis der Kirche?
Susanne Tillmann (Pastoralreferentin in der Seelsorge für Menschen mit psychischer Erkrankung und Behinderung im Erzbistum Köln): Durch meine Arbeit in der Psychiatrieseelsorge bin ich mit Menschen in Kontakt, die sich nicht oder nicht mehr in einer Kirchengemeinde beheimatet fühlen. Manchmal weiß ich gar nicht, ob ein Mensch überhaupt christlich geprägt ist, wenn wir uns kennenlernen. Akut Erkrankte in der Klinik befinden sich in einem existentiellen Ausnahmezustand, in dem Vieles auf dem Prüfstand steht.
Darüber hinaus lerne ich Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen auch in ihren stabilen Phasen in Wohnbereichen oder in Sozial-Psychiatrischen Zentren kennen. In der Regel sind es Menschen mit extremen Lebenserfahrungen, die nicht nur viel durchlitten haben, sondern auch viel über sich, ihr Leben und ihren Glauben nachdenken. Oft sind es Menschen mit einem guten Gespür für das, was in einer Begegnung echt oder aufgesetzt ist. Sie haben das Bedürfnis, Halt zu finden im Glauben, Gott anzufragen oder sich mit Gott auseinanderzusetzen – und von Gott gesegnet zu sein.
Herausfordernd sind dabei die Abgründe, mit denen die Betroffenen leben und mit denen wir in der Seelsorge konfrontiert werden. Das Kreuz, das Menschen tragen müssen, berührt auch mich an meinen eigenen Grenzen. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern fordert theologisch-existentiell heraus zu radikal liebevollen und ehrlichen Umgangsformen auch in unserer Kirche. Das führt in unserer Forschungsgruppe zu einem Überdenken manch theologischer Ansätze, Sichtweisen und liturgischer Ausdruckformen.
Viele Menschen fühlen sich in ihrer Kirche nicht mehr ernst genommen und treten aus. Im Psychiatrischen Kontext begegnet mir eine andere Bedürftigkeit: Die Lebenssituation ist viel zu ernst, um alles über Bord zu werfen. Ganz existentiell erfordert das je eigene Kreuz eine Wandlung und Auferstehung zum Leben. Damit ist der Kern der christlichen Botschaft radikal angefragt und herausgefordert. Und genau darin sehe ich heute auch ihre Chancen.
DOMRADIO.DE: Inwiefern spielt die immer pluraler und kulturell vielfältiger werdende Gesellschaft eine Rolle bei der Seelsorge mit Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung?
Tillmann: Die Heterogenität und die kulturelle Vielfalt unter PatientInnen, BewohnerInnen und in therapeutischen Teams spielen auch in der Seelsorge eine große Rolle: Ich erlebe Sprachbarrieren bei Flüchtlingen aus Kriegsgebieten, die mit entsprechenden Traumata in der Klinik sind und nicht unsere Sprache sprechen. Hinzu kommen unterschiedliche kulturelle und religiöse Prägungen: Das ist spannend und bereichernd, weil ich selber immer wieder Neues dazu lerne.
Ich kenne aber auch Situationen, wo unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen aufeinanderprallen – auch aufgrund der psychischen Erkrankung. Seelsorgliche Begleitung wird erschwert, wenn Menschen ihre eigene Verletztheit zum Beispiel hinter sexistischer oder rassistischer Abwertung anderer verbergen. Ein offener, sensibler und wertschätzender Umgang miteinander ist umso wichtiger, je vielschichtiger und bunter die Menschen sind, die uns in der Seelsorge begegnen.
Seelsorge heißt für mich, Menschen nach starken Lebenseinbrüchen zu ermutigen, eine Deutungsfähigkeit für ihre Lebensgeschichte (wieder) zu entwickeln. Das eröffnet nicht zuletzt Fragen an unsere Kirche: Wie menschenfreundlich ist sie? Sind ihre Liturgien einladend? Lässt sie den nötigen Raum für Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit? Und schließlich: Wer hat die Deutungshoheit über die Liturgie, ihre Gestaltung und ihre inhaltliche Auslegung?
DOMRADIO.DE: Das Projekt hat bereits 2020 begonnen und soll Ende dieses Jahres enden. Welche Folgen sollen daraus für das gottesdienstliche und seelsorgerische Angebot der Kirche erwachsen und was bedeutet dies für die Theologie, speziell auch für die beteiligten Fachgebiete? Die Deutsche Bischofskonferenz hat beispielsweise vor einigen Wochen ein Hochgebet in Leichter Sprache zur Erprobung in der liturgischen Praxis gutgeheißen.
Odenthal: Das Projekt ist nicht zu Ende. Welche Folgen es hat, wird die Zukunft zeigen. Es geht letztendlich um eine existenzielle Tiefe des Gottesdienstes: die Möglichkeit, persönliche, oft krisenhafte Lebenserfahrungen mit uralten Gottesgeschichten und menschheitsalten rituellen Gesten zu verbinden, ins Gespräch zu bringen und erlebbar zu machen.
Dazu gehört, sensibel die Situationen von Menschen in der Seelsorge wahrzunehmen und die eigenen Rollen als Seelsorgende zu überdenken und auszugestalten. Das heißt konkret, die Reichtümer der rituellen Traditionen des Christentums zu nutzen und in ihrer Pluralität wahrzunehmen. Die rituelle Kompetenz der Leidenden wird zu neuen Formen des Gottesdienstes führen. Menschen können so in ihren vielfältigen, oftmals schweren Lebenssituationen Trost erfahren.
Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.