Welche Rolle spielt Flüchtlingspolitik für die Kirche?

Die Bibel steckt voller Fluchterfahrungen

Am Dienstag findet in Köln der achte katholische Flüchtlingsgipfel statt. Menschen aus Deutschland tauschen sich über Aufnahme und Schutz von Geflüchteten aus. Wie positioniert sich die katholische Kirche in der Flüchtlingspolitik?

Ein Kreuz hängt in einer Unterkunft für Flüchtlinge an der Wand / © Julia Steinbrecht (KNA)
Ein Kreuz hängt in einer Unterkunft für Flüchtlinge an der Wand / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie sagen, Migration und Flucht gehören zum Kern des christlichen Glaubens und können für Europa zum Weg in die Freiheit werden. Inwiefern?

Prof. Dr. Regina Polak (Professorin für Praktische Theologie und Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien): Wenn Sie sich die biblischen Texte anschauen, dann werden Sie feststellen, dass im sogenannten Hintergrund all dieser Texte der Glaube, den die Bibel bezeugt, inmitten von Migrations- und Fluchterfahrungen entstanden ist. Ob es das Leben im Exil, der Exodus, das Leben in der Diaspora der christlichen Gemeinde oder die Ausbreitung des christlichen Glaubens ist. Zum Beispiel finden wir in der Apostelgeschichte viele Beispiele für Inkulturation (Anm. d. Red.: das Einbringen von Verhaltensmustern, Gedanken über Dinge oder Ansichten von einer Kultur in eine andere).

Das Christentum, die junge Kirche und der christliche Glaube sind zutiefst von einer Migrationsmatrix geprägt. Das heißt, das Migrations- und Fluchtthema ist, ein ethisches, ein politisches, aber auch ganz zentral ein Glaubensthema. Das fordert uns als Kirche heraus, auf die zeitgenössischen Migrations- und Fluchtbewegungen achtsam zu reagieren, um für die Rechte von geflüchteten Menschen einzutreten.

DOMRADIO.DE: Schauen wir konkret auf die Positionen der katholischen Kirche in Deutschland. Sie setzt sich für ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit der Ergänzung menschenwürdig ein. Was heißt das?

Prof. Dr. Regina Polak

"Die katholische Kirche ist ein wichtiger Player, um den Menschen, die hier angekommen, ein Leben in Würde und mit den entsprechenden Rechten zu ermöglichen."

Polack: Das heißt, dass in Bezug auf den Umgang mit geflüchteten Menschen in Europa, insbesondere an den Außengrenzen, noch viel Luft nach oben ist. Wir haben es mit Refoulement (Anm. d. Red.: Ausweisung, Auslieferung oder Rückschiebung von Personen) und Pushbacks (Anm. d. Red.: staatliche Maßnahmen, mit der Flüchtlinge und andere Migranten meist unmittelbar nach Grenzübertritt zurückgeschoben werden) zu tun haben. 

Außerdem erfahren geflüchtete Menschen an den EU-Außengrenzen Gewalt. Das ist an sich kein Geheimnis, auch wenn es in den Medien viel zu wenig publiziert, diskutiert und sichtbar gemacht wird. Die katholische Kirche macht das Thema ganz eindeutig zum Thema. Auch bei der Frage der Migration oder der Integration gibt es noch Entwicklungsspielraum. Dabei ist die katholische Kirche in Deutschland, in Österreich und auch weltweit ein wichtiger Player, um den Menschen, die hier angekommen sind, ein Leben in Würde und mit den entsprechenden Rechten zu ermöglichen.

Das heißt im Wesentlichen die Schaffung von Möglichkeiten zur Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und auch am religiösen Leben. Viele Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten sind katholisch und verändern unsere Gesellschaft. Die katholische Kirche ist in der Verantwortung, für ein gutes und halbwegs friedliches Zusammenleben in Vielfalt zu sorgen. Dafür setzt sich die katholische Kirche nicht nur in Deutschland und Österreich ein. Das ist auch eine Grundposition des Vatikans. Es gibt zahlreiche Dokumente, die zeigen, dass sich seit Jahren Päpste - auch schon vor Franziskus - für Migranten und Migrantinnen eingesetzt haben.

DOMRADIO.DE: Ist sich die katholische Kirche in Europa einig, wie der Umgang mit Zuwanderung und Integration auszusehen hat und wie stark sie sich einbringen soll?

Polack: Nein, das ist sie leider nicht. Zwischen dem, was vom Lehramt und vom biblischen Erbe her der Anspruch an die katholische Kirche in Europa wäre und der konkreten Praxis sind wir leider recht weit entfernt. Besonders in vielen osteuropäischen Ländern wird vonseiten mancher Bischöfe eine andere Politik gefahren und es wird eine andere Einstellung sichtbar. Das trifft nicht auf die gesamte katholische Kirche im osteuropäischen Raum zu.

Gerade aus der Basis, also auf der Ebene der gelebten Gemeinden, finden sich viele Menschen, die sich für Geflüchtete engagieren. In bestimmten Ländern Europas haben sie es nur deutlich schwerer als in anderen. Ich denke zum Beispiel an Ungarn, Polen und Tschechien. In diesen Ländern ist der Einsatz für geflüchtete Menschen für die katholischen Christinnen und Christen eine Herausforderung, weil sie sich manchmal gegen den Geist der Zeit wenden müssen.

Also nein, einig sind sich die Kirchen da leider nicht. Es kommt viel darauf an, wie sehr das Thema in den Predigten zum Thema gemacht wird und ob und wie Migrationstheologie oder Positionen zu den Rechten für Fremde überhaupt eine Rolle in der Pastoral spielen. Wenn das nicht der Fall ist und eine Politik propagiert wird, die implizit oder explizit der biblischen und lehramtlichen Tradition nicht entspricht, dann ist das ein Problem, weil die Katholikinnen und Katholiken dann falsch geprägt sind. 

Aus meiner Forschung, der Forschung zum Zusammenhang von religiösen Einstellungen und Werten sowie deren Einfluss und Wirkung auf politische Einstellungen und Werte weiß ich, dass sich eine katholische Religiosität in der Praxis sehr ambivalent auf demokratiepolitisch relevante Einstellungen auswirkt. Dabei spielt die Einstellungen zu Migranten und Muslimen eine Schlüsselrolle.

Personen, die ein traditionelles religiöses Selbstverständnis haben, dazu keine religiöse Praxis haben und nicht aktiv einer Gemeinde angehören oder überhaupt katholisch praktizieren, lehnen mit höherer Wahrscheinlichkeit Muslime, Migrantinnen und Migranten ab. Umgekehrt gibt es positive Auswirkungen.

Personen, die sich als religiös verstehen, sich sozial engagieren und aktiv zugehörig sind, haben oft deutlich positivere Einstellungen zu Migrantinnen, Migranten und Muslimen. Das sind europaweit beobachtete Phänomene und die haben auch Einfluss auf Wahlentscheidungen. Daher kommt insbesondere den Leitungspersonen eine Schlüsselrolle zu. Was sie erzählen, lehren und welche Diskurse sie über das Thema Migration und Flucht in der Pastoral und der Aus-, Weiter und Bildung führen, bestimmt den Diskurs.

Prof. Dr. Regina Polak

"Ich glaube nicht, dass die katholische Kirche in Deutschland und Österreich jetzt schon eine Minderheit ist, aber sie ist auf dem Weg dorthin."

DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche in Deutschland erlebt einen erdrutschartigen Bedeutungsverlust. Welchen Einfluss kann die Kirche überhaupt in politischen Fragen haben?

Polack: Der Einfluss, den man hat, ist in einer Demokratie nicht unbedingt von der Quantität abhängig, sondern hängt von den Argumenten ab. Ich glaube nicht, dass die katholische Kirche in Deutschland und Österreich jetzt schon eine Minderheit ist, aber sie ist auf dem Weg dorthin.

Wenn man sich die Umfragedaten aus der EKD-Studie oder aus dem COVID-19-Panel für Österreich anschaut, sieht man, dass die katholische Kirche enorm an Vertrauen und Bedeutung verliert. Das hindert aber nicht daran, sich offensiv mit guten Argumenten in den öffentlichen Diskurs einzubringen.

Ich bin in der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz und nehme die Kirche bei dem Thema durchaus positiv wahr. Ich habe das Gefühl, die machen das schon sehr gut. Eine kirchliche Stellung mit weniger Macht heißt nicht, dass man sich nicht mit stichhaltigen und machtvollen Argumenten einbringen kann. In diesem Fall hat man es natürlich schwerer, weil die Argumente weniger mehrheitsfähig sind.

Vielleicht gerade, weil ich als Österreicherin die deutsche Kirche im Bereich Migration und Flucht aktiv von außen wahrnehme, bin ich von der Kirche sehr beeindruckt. Sie schaut professionell, ernsthaft und aufrichtig auf die Nöte, Leiden und Herausforderungen und hat gleichzeitig die Anliegen, Fragen und Nöte der Aufnahmegesellschaft im Blick. Ich nehme die Migrations- und Asylpolitik der deutschen Kirche als überaus differenziert wahr und möchte herausstellen, dass sie eine gute Sache ist.

Das Interview führte Heike Sicconi.

Arbeitspflicht für Flüchtlinge

Im ostthüringischen Saale-Orla-Kreis sollen Asylbewerber zu vier Stunden Arbeit pro Tag verpflichtet werden. Grundlage ist eine entsprechende Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz, wie ein Kreis-Sprecher sagte. Die Geflüchteten sollen für 80 Cent Entlohnung pro Stunde einfache Arbeiten erledigen. Weigern sie sich, drohen Geldkürzungen von bis zu 180 Euro im Monat.

Symbolbild Ausbildung im Handwerk / © VanoVasaio (shutterstock)
Symbolbild Ausbildung im Handwerk / © VanoVasaio ( shutterstock )
Quelle:
DR