DOMRADIO.DE: Europa scheint sich immer mehr abzuschotten. Die EU diskutiert neue Asylregeln, Großbritannien schickt Flüchtlinge nach Ruanda und auch in Deutschland werden ähnliche Ideen offen debattiert. Wie sehen Sie das als Flüchtlingsbischof und als Christ?
Erzbischof Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg und Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz): Es steigt schon ein gewisser Zorn in mir auf, wenn ich das so höre. Das ist geradezu grotesk, diese Verfahren auszulagern. Die Menschen kommen, weil sie in ihren eigenen Ländern nicht mehr bleiben können. Weil dort Krieg herrscht, das Klima unerträglich ist, weil sie keine Perspektive sehen oder ihnen Gewalt angetan wird. Die Gründe sind vielfältig. Dann versuchen sie, woanders adäquate Lebensbedingungen für sich und ihre Familie zu finden.
Wir haben 110 Millionen geflüchteter Menschen im Moment auf unserem Globus. Die Tendenz ist steigend. Da kann man nicht die Augen vor schließen und da kann man auch nicht sagen, dass wir jetzt die Grenzen, die Zäune noch höher machen. Vielmehr muss man erstens ein Herz für die Menschen haben und muss zweitens versuchen Antworten und Lösungen zu finden, wie man diese globale Herausforderung bewältigt. Das geht letztlich uns alle an.
DOMRADIO.DE: Die Europäische Union versucht Lösungen zu finden. Gerade vor zwei Wochen wurde der neue Asylpakt abgesegnet, der unter anderem beschlossen hat, die Asylverfahren an die EU-Außengrenzen zu verlagern. Pro Asyl nennt das "Asylverfahren unter Haftbedingungen". Wie bewerten Sie das?
Heße: Dass wir einen gemeinsamen Asylpaket haben, ist vielleicht nicht das Schlechteste. Aber inhaltlich habe ich etliche Fragezeichen. Einen Punkt haben Sie gerade angesprochen, nämlich die Verfahren auszulagern. Die Menschen müssen dann in "controlled areas", in lagerähnlichen Bedingungen, ausharren. Bei meinen Reisen habe ich solche Einrichtungen schon mal erleben können und Menschen da sprechen und besuchen können. Das halte ich nicht für angemessen. Vor allen Dingen, wenn ich mir vorstelle, dass da Familien und kleine Kinder dabei sind.
Ich erinnere mich an eine bewegende Begegnung in Griechenland in einem dieser Camps. Ich habe ein kleines Kind durch Übersetzer gefragt, was es sich denn wünscht. Und die Antwort dieses kleinen Kindes im Grundschulalter war einfach: "Eine normale Schule".
Das sind die Bedürfnisse, die diese Menschen haben, ganz zu schweigen von Gesundheit, von der Möglichkeit zu arbeiten, von fairen und rechtlich sauberen Verfahren, von Unterstützung, Dolmetschern und Rechtsbeistand. Ich glaube, so was muss da gewährleistet werden. Aber davon sind wir noch weit fern.
Wenn wir die Verfahren auslagern – Italien will sie nach nach Albanien verlagern –, dann ist das ein Signal. Wir schieben die Migranten irgendwo hin weg und wollen uns der Verantwortung entledigen. Das kann nicht die Richtung sein. Wir müssen uns der Verantwortung stellen und zwar hier, wo wir leben, und sie nicht externalisieren.
Überdies befürchte ich, dass damit auch die Genfer Flüchtlingskonvention innerlich ausgehöhlt wird und der Flüchtlingsschutz am Ende eine hohle Nummer wird. Das kann nicht in unserem Sinne sein.
DOMRADIO.DE: Dieses Jahr stehen drei große Landtagswahlen in Ostdeutschland an, nächstes Jahr die Bundestagswahl. Gerade von populistischen Stimmen wird in Richtung Kirche gerne mal gesagt: "Haltet euch aus der Flüchtlingspolitik raus, kümmert euch um euren eigenen Kram". Was antworten Sie auf das Argument?
Heße: Ich habe, nachdem wir deutschen Bischöfe einstimmig vor einigen Wochen eine gemeinsame Erklärung herausgegeben haben, natürlich auch die entsprechende Post bekommen. Die ist manchmal unter der Gürtellinie. Es ist wirklich peinlich, wie die Leute sich äußern, wenig sachlich. Dieses Argument, wir sollen in der Kirche oder der Sakristei bleiben, kommt doch relativ häufig.
Oder mir wird gesagt: "Bischof, bete gefälligst und alles andere ist nicht dein Forum". Das ist natürlich schwach, weil Glaube immer ins Leben geht und wir ja nicht nur eine Botschaft für die Zweisamkeit zwischen Gott und einem selbst haben. Der Glaube ist gesellschaftsrelevant, er hat Auswirkung aufs Leben. Das Grundgebot unseres Glaubens ist die Gottes- und die Nächstenliebe und eben nicht nur die Gottesliebe.
Wenn wir wirklich an einen Gott glauben, der jeden Menschen unterschiedslos liebt, dann heißt das eben auch, dass wir das an den Tag legen sollen und entsprechend die Liebe Wirklichkeit werden lassen sollen und damit die Welt verändern. Deswegen können und müssen wir uns da auch zu Wort melden. Erst recht, wenn die Menschenwürde angegriffen wird.
Bei diesen rechtsextremen Gruppen und Parteien müssen wir schon beobachten, dass manchen Leuten die Menschenwürde zugesprochen und manchen Leuten die Menschenwürde abgesprochen wird. Das ist nicht christlich. Nach christlichem Verständnis hat jeder seine Würde. Diese Würde haben wir zu respektieren und nicht zu diskutieren, sondern die ist da. Wir haben sie zu schützen und alles dafür zu tun, damit die Würde jedes einzelnen Menschen sich entfalten kann. Dazu braucht er entsprechende Bedingungen. Deswegen setzt sich die Kirche sozusagen mit allen Händen und Füßen für diese Menschen konkret ein.
DOMRADIO.DE: Was kann denn Kirche konkret in der Flüchtlingsfrage ausrichten? Sie ist weder eine staatliche Organisation noch eine NGO.
Heße: Die Kirche ist eine Institution, die eine Pflicht hat, für die Schwächsten in der Gesellschaft immer wieder Partei zu ergreifen. Deswegen muss sie sich um den Schutz des Lebens in allen seinen Phasen kümmern. Dazu gehört auch, die besonders vulnerable Situation der Migration anzusprechen und diesen Menschen Unterstützung zu geben. Wir versuchen etwa in der Politik, Stimme für diese Menschen zu sein. Viele von uns führen auf ihren Ebenen in kommunaler Hinsicht, auf Landesebene oder auf Bundesebene immer wieder Gespräche. Ich selbst tue das auch, um für diese Anliegen zu sensibilisieren.
Wir versuchen praktisch zu werden. Wir haben in der Caritas, aber auch in den Diözesen, Ordensgemeinschaften oder Hilfswerken ganz viele Menschen, die sich der Anliegen der Geflüchteten annehmen. Das heißt, wir sagen nicht nur was, sondern wir versuchen auch, etwas zu tun, um in dieser Situation einen Beitrag zu leisten. Wir unterstützen da, wo wir gerufen werden, weil wir für die Gesellschaft einen positiven Beitrag leisten wollen.
Ganz zu schweigen davon, dass wir natürlich auch für die Seelsorge der Migrantinnen und Migranten da sind. Da sind auch eine Reihe von Christen drunter. Das hat das Gesicht der Kirche, gerade hier in Deutschland, sehr verändert. Ich kann das von meiner Diözese in Hamburg her ausdrücklich sagen.
Wir haben seit einigen Jahren viele orientalische Christen, die wir früher nur vom Hörensagen kannten. Die haben ihre eigene Liturgie. Die brauchen zum Beispiel Gotteshäuser, wo sie Gottesdienst feiern können. Bei mir laufen sie die Türe ein und fragen, wo das geht. Wir haben Seelsorger für Geflüchtete, weil das ja eben nicht nur eine äußere Situation ist, sondern auch ans Herz geht.
Deswegen brauchen diese Menschen auch geistlichen und religiösen Beistand. Wir sind offenbar so mit ihnen in Kontakt, dass sich einige von ihnen entschlossen haben, sich in einigen Monaten taufen zu lassen. Sie haben sich gefragt, warum wir das eigentlich machen und was uns antreibt. Sie sind auf diese Weise neugierig geworden und haben dann den christlichen Glauben auf ganz neue Art und Weise kennengelernt.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.