DOMRADIO.DE: Vor gut sieben Monaten waren Sie zuletzt in Deutschland, unter anderem um Spendengelder für ein geistliches Rehabilitationszentrum in Ihrer Diözese zu sammeln. Was ist da Stand der Dinge?
Wolodymyr Hruza (Weihbischof im ukrainischen Lwiw/Lemberg): Der äußere Erweiterungsbau einer schon älteren Einrichtung steht bereits. Aktuell geht es darum, das Heizungssystem zu installieren, das noch nicht komplett finanziert ist. Und dann muss dieses Zentrum auch noch vollständig eingerichtet werden. Ziel ist, hier zukünftig eine spirituelle Begleitung von Laien, aber auch spezielle Ausbildungsprogramme für Priester und Katecheten anzubieten sowie eine psychische und physische Rehabilitation in Zusammenarbeit mit medizinischen Institutionen zur Traumbewältigung von Menschen, die alle Formen von seelischer Verwundung in diesem anhaltenden Krieg davon getragen haben, wozu beispielsweise auch Ärzte gehören.
Wir schaffen etwa 100 zusätzliche Therapieplätze, für die insgesamt über 60 Zimmer vorgesehen sind. Das heißt, wer eine Auszeit benötigt, Kraft tanken will, kann hier eine stationäre, also auf einen längeren Zeitraum hin angelegte Therapie in Anspruch nehmen. Ambulante Einrichtungen gibt es bereits, aber nun wollen wir auch ein Erholungsangebot für ein Wochenende, eine ganze Woche oder auch länger machen. Das Konzept sieht vor, als Kirche eine ganzheitliche Therapie anzubieten. Kriegsversehrte mit Prothesen zu versehen ist das Eine und nicht zuletzt Aufgabe des Staates, also medizinischer Spezialkliniken. Für die seelische Begleitung aber – zum Beispiel von Angehörigen gefallener Soldaten und überhaupt bei seelischen Wunden aller Art, die dieser Krieg verursacht – sehen wir uns in der Verantwortung.
DOMRADIO.DE: Gibt es für Ihr Vorhaben Unterstützung aus dem Erzbistum Köln?
Hruza: Dazu haben wir das Projekt jetzt in der Abteilung Weltkirche im Generalvikariat vorgestellt und einen Antrag um Finanzhilfe gestellt. Nun wird unser Anliegen geprüft, und wir hoffen und beten, dass es diesbezüglich aus Köln eine Unterstützung für Lviv geben wird.
DOMRADIO.DE: Die Welt hat sich an den nun schon zwei Jahre und dreieinhalb Monate andauernden Krieg gewöhnt hat. Wie geht es den Menschen in Ihrer Heimat? Immer wieder hört man von Kriegsmüdigkeit. Wie ist die humanitäre Lage in Lviv?
Hruza: Auf niedrigem Niveau ist die Lage stabil, wobei stabil in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die Ukraine noch existiert und bisher nicht von der Weltkarte verschwunden ist. Aber natürlich sind die Menschen total erschöpft und traumatisiert. Wenn ich von Stabililtät spreche, meine ich damit aber auch, dass die Menschen in diesem Land keine Alternative haben, keinen Weg zurück sehen. Wohin auch. Also kämpfen sie, sofern sie dazu noch die Kraft haben. Dabei motiviert sie, dass es für sie keine andere Lösung gibt. In Lviv haben wir sehr viele Binnenflüchtlinge und Verwandte von gefallenen Soldaten.
Vor allem aber gibt es leider weiterhin fast täglich solche Beerdigungen. Insgesamt zählen wir allein in Lviv inzwischen über 1000 Gräber von im Krieg umgekommenen jungen Menschen, die an der Front gekämpft haben. Auf dem Friedhof trifft man den ganzen Tag über Angehörige an – darunter viele Kinder noch sehr junger Väter. Erst kürzlich habe ich ein Kind getauft, das den Namen seines Vaters Roman erhalten hat, der noch vor seiner Geburt gefallen ist. Und so etwas habe ich nicht zum ersten Mal erlebt.
DOMRADIO.DE: Wie gehen Sie selbst damit um, dass Sie tagtäglich solche Tragödien erleben, junge Menschen in Särgen durch die Straßen tragen und die zurückbleibenden Frauen und Kinder trösten?
Hruza: Es geht eigentlich nicht darum, in solchen Situationen viele Worte zu machen – das wird auch gar nicht erwartet. Vielmehr sind wir als Seelsorger da und halten den Schmerz um den Verlust mit aus. Das ist das Wichtigste. Oft begegne ich Angehörigen auf dem Friedhof sogar eher still, wobei ich meist frage, ob wir zusammen am Grab des geliebten Menschen, um den getrauert wird, beten können. Und darüber ergeben sich manchmal ganz von selbst Gespräche, in denen die Trauernden selbst die Richtung vorgeben. Neulich erst traf ich eine Mutter, die einen Sohn in der Pandemie verloren hat und den zweiten nun im Krieg. Nie hätte sie gedacht, einmal allein da zu stehen, erzählte sie mir. Eine andere sagte mir, dass für sie der Friedhof der ruhigste Ort der Welt sei. Jeden Abend komme sie nach der Arbeit an das Grab ihres Sohnes und an das ihres Schwiegersohnes. Dann stehe ich einfach nur bei diesen trauernden Menschen, manchmal umarmen wir uns schweigend. Oft ist mehr nicht zu tun.
Ein anderes Mal traf ich eine junge Frau am Grab ihres Verlobten, die von dem Verstorbenen immer in der Gegenwart sprach, als sei er noch am Leben. Mit dem, was sie von ihm erzählte, wollte sie zu verstehen geben, dass auch der Tod diese Liebe nicht beenden kann. Wie viele andere auch erlebt sie es fast als Gnade, so sagte sie mir, dass sie ihm an diesem Ort nach wie vor nahe sein könne, es überhaupt ein Grab gebe. Denn das Schlimmste ist für Angehörige, wenn sie keine Nachrichten haben, ob jemand noch lebt, und wenn ja, wo er sich befindet oder er eventuell inhaftiert ist. In dem Zusammenhang kann ein Grab fast etwas Tröstliches sein, weil es Realität ist und es einen Ort für die Trauer gibt. So gesehen, ist auf unseren Friedhöfen viel Leben, weil dort ständig Besucher sind, die ihren Verstorbenen ganz nah sein wollen und dort – so befremdlich das klingen mag – nicht aufhören, ihr Leben miteinander zu teilen, auch wenn der andere nicht mehr da ist.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen die Kirchen im Krieg? Kann sie den Menschen, die allergrößte Opfer bringen und jeden Tag vor allem ihre Söhne und Väter begraben, so dass die Friedhöfe inzwischen aus riesigen Felder mit wehenden Ukrainefahnen bestehen, überhaupt noch trösten?
Hruza: Die Kirche macht das, was sie auch schon vor dem Krieg gemacht hat: Sie dient, tröstet, betet mit den Menschen und spendet die Sakramente. Viele Menschen kommen täglich in die Gottesdienste – und zwar nicht aus einem Pflichtgefühl heraus, sondern weil sie das tiefe Bedürfnis verspüren, die Kommunion zu empfangen und Heilung zu suchen. Was ja ja die ureigene Aufgabe von Kirche ist: bei den Menschen zu sein, vor allem in größter Not. In diesem Krieg ist sie ein wichtiger Anker. Und das nicht nur, weil sie für die vielen Beerdigungen einen Ritus bereithält, sondern weil sie seelsorgliche Begleitung anbietet. Mit unseren Militärgeistlichen sind wir regelmäßig auf den Friedhöfen, wo wir oft schon sehnlichst erwartet werden, präsent.
Besonders beeindruckend für mich war das am Ostersonntag zu sehen, wenn sonst eigentlich alle zuhause in der Familie mit den Verwandten feiern. Diesmal aber haben sich die Familien mittags rund um die Gräber ihrer Lieben versammelt. Als Kirche organisieren wir solche Zusammenkünfte mit einer gemeinsamen Andacht und Gebeten. Wir laden dazu ein, schreiben die Angehörigen an, und die Menschen nehmen ein solches Angebot überaus dankbar an. Wohin sonst sollen sie an einem solchen Festtag auch gehen. Es ist ihre Form von Familienfeier, den Verstorbenen Ostern in ihre Mitte zu nehmen.
Was die Relevanz von Kirche angeht, war diese immer schon ausgeprägt. Sicher aber hat die Kirche im Krieg noch einmal an Bedeutung hinzugewonnen – auch weil die örtlichen Gotteshäuser im Krieg zu regelrechten Sozialzentren geworden sind.
DOMRADIO.DE: Immer wieder wirft der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine Fragen auf, welche Mittel der Gegenwehr ethisch erlaubt sind, welche Waffen eingesetzt werden dürfen und wie weit ihre Reichweite gehen darf. Das beschäftigt vor allem diejenigen, die die Waffensysteme liefern. Zum Beispiel Deutschland. Erlauben Sie sich als Kirche dazu eine Meinung? Beziehen Sie zu solchen Fragen Stellung?
Hruza: Der Mensch hat das Grundrecht auf Selbstverteidigung. Und der Mensch darf sich mit denselben Mitteln verteidigen, mit denen er attackiert wird, damit er sein Leben und seine Familie schützt. Denn das Leben ist eine Gottesgabe, die uns aufgetragen ist zu schützen. Ich sage immer gerne, wir kämpfen nicht gegen die, die vor uns sind, sondern verteidigen diejenigen, die hinter uns sind. Weder bin ich Politiker noch Militärexperte, sondern Seelsorger. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir uns verteidigen dürfen.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie hoffen schon darauf, dass Deutschland und die ganze EU weiterhin Waffen in die Ukraine liefert, damit sich Ihr Land verteidigen kann?
Hruza: Ja, natürlich, damit wir weiterhin bestehen können.
DOMRADIO.DE: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen! Klingt diese Aufforderung Jesu in Ihren Ohren nicht zynisch, wenn der Feind – in diesem Fall die russische Regierung – ein ganzes Volk auslöschen will?
Hruza: Hass ist niemals eine Lösung. Das sage ich auch bei Begräbnissen, wenn der Schmerz gerade am akutesten und es deshalb naheliegend ist, denjenigen, der für dieses unfassbare Leid verantwortlich ist, zu hassen. Aber wenn wir im ständigen Hass leben, zerstören wir letztlich nur uns selbst. Denn was unseren Feind angeht, erreichen wir mit Hass nichts. Eher geht es uns selbst mit einer solchen Haltung immer schlechter. Vergebung muss nicht bedeuten zu vergessen, aber frei von Hass zu sein. Und Selbstzerstörung durch Hass ist sicher das, was die Frauen und Männer, die in diesem Krieg gestorben sind, am allerwenigsten wollten. Stattdessen sollten wir Hass in Mut verwandeln. Denn Mut als in positive Energie verwandelte Kraft brauchen wir für unsere Selbstverteidigung.
DOMRADIO.DE: Sehen Sie irgendwo einen Funken Hoffnung, dass dieser Krieg absehbar beendet werden kann?
Hruza: Als Christen leben wir von der Hoffnung. Allein schon aufgrund der großen Opferzahlen will das ukrainische Volk nicht aufgeben. Jetzt einen Pseudo-Frieden zu schließen, würde die Frage aufwerfen, wofür alle diese vielen Menschen ihr Leben verloren haben. Einen Hoffnungsfunken sehe ich in der Unterstützung durch die Weltgemeinschaft. Schließlich steht die gesamte Weltordnung auf dem Spiel. Wenn die Weltfamilie gemeinsam Position bezieht, ist das schon mal eine große Hilfe. Gott wird ganz sicher etwas daraus machen, auch wenn wir das jetzt noch nicht erkennen können. Aber die Hoffnung, dass dieser Krieg zu einem gesamtgesellschaftlichen Umdenken führt, bleibt. Dabei geht es nicht darum, für oder gegen ein einzelnes Land zu sein, sondern das Böse zu besiegen.
DOMRADIO.DE: Sollte es je zu einem Waffenstillstand kommen, wird diesem Land eine ganze Generation fehlen, die ihr Leben an der Front gelassen hat. Immer wieder beerdigen Sie junge Soldaten von Anfang 20. Was sagen Sie deren Familien?
Hruza: Schon heute spüren wir einen enormen Mangel an Arbeitskräften. Denn es wurden ja viele junge Männer eingezogen, so dass sich eine Situation wie nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholen könnte, als Frauen nicht heiraten konnten, weil es keine Männer mehr gab. Oft tröste ich Kinder am Sarg ihrer Väter damit, dass sie sich ihrer zeitlebens nicht schämen müssen. Im Gegenteil: Diese Kinder dürfen auf ihre Väter immer stolz sein, weil sie Helden sind. Denn unsere lieben Verstorbenen haben ihr Leben für andere geopfert und ein Zeugnis von Mut, Hoffnung und Standhaftigkeit abgelegt.
Aber es sterben an der Front nicht nur Männer. Erst am Montag wurde eine 26-jährige Ärztin, die ebenfalls im Frontgebiet ihr Leben gelassen hat, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt. Auch sie war tapfer in diesen Krieg gegangen und hatte sich sehr bewusst und aus tiefer Überzeugung für diesen Dienst zur Verfügung gestellt. Und sie hatte, wie sich dann herausstellte, Vorkehrungen für den Fall ihres Todes getroffen. Sie wusste also, worauf sie sich einlässt, was sie bereit ist zu opfern und dass sie mit ihrem Einsatz ihr Leben riskiert. So gesehen stehen die Schmerzen dieses Krieges auch für viel Liebe. Das ist vielleicht ein schwacher Trost, aber es ist ein Trost.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.