EU-Kirche sieht in Wahlergebnis ein Signal für Brüssel

"Große Zweifel an Europa"

Der Anstieg rechter Kräfte bei der Europawahl sei keine Überraschung, dränge aber zum Nachdenken bei Kirche und Politik, sagt Stefan Lunte von Justitia et Pax Europa. In der Wahlbeteiligung sieht er ein "Zeichen für die Demokratie".

Europawahl 2024 / © Virginia Mayo (dpa)
Europawahl 2024 / © Virginia Mayo ( dpa )

Das Interview wurde am Sonntagabend um 20 Uhr aufgezeichnet.

DOMRADIO.DE: Die großen Gewinner der Europawahl scheinen durch die Bank die Rechtspopulisten und Rechtsextremen zu sein, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und weiteren Ländern. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung?

Stefan Lunte ist der Generalsekretär von Justitia et Pax Europa. / © Julia Steinbrecht (KNA)
Stefan Lunte ist der Generalsekretär von Justitia et Pax Europa. / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Stefan Lunte (Generalsekretär "Justitia et Pax Europa", Mitarbeiter der EU-Bischofskommissio COMECE): Es wäre wahrscheinlich verfehlt zu sagen, dass wir vollkommen überrascht sind. Die Vorhersagen der Umfragen sind ja zu weiten Teilen eingetroffen, da gibt es wohl keine großen Überraschungen. 

Als COMECE und Justitia et Pax Europa stellt sich für uns auch die Frage, inwieweit sind europäische Verantwortliche in den unterschiedlichen Institutionen in der Lage, eine wirkliche Selbstkritik anzugehen. Eine 'Form von Gewissensforschung' könnte man im Theologischen sagen. Inwieweit ist das gelungen? War das jetzt vielleicht auch ein Signal, das wir jetzt bekommen haben? Was ist alles in den letzten 25, 30 Jahren nicht auch an Versprechungen mit dem europäischen Projekt verbunden worden - mit guter Absicht, besten Intentionen, aber Versprechungen, die doch nicht gehalten werden konnten. 

Das ist aus meiner Perspektive heute Abend eine wichtige Nachricht. Das muss jetzt der Moment sein, wo man innehält und sich sagt: Lasst uns prüfen ob das, was wir uns vorgenommen und versprochen haben, wirklich eingetreten ist. Ist das nicht auch ein Teil der großen Enttäuschung in Europa, die sich sowohl auf der nationalen als auch auf der europäischen Ebene wiederfindet?

DOMRADIO.DE: Der COMECE-Präsident, Bischof Mariano Crociata, hat in seinem Wahlaufruf die Katholiken in Europa dazu aufgefordert, mit den Wählerstimmen verantwortungsvoll umzugehen und Kräfte zu wählen, die das Projekt Europa stärken. Ist dieser Ruf nicht angekommen?

Lunte: Da wird man nun Land für Land schauen müssen. Da gab es vor ein paar Tagen noch eine ganz interessante Umfrage in der französischen katholischen Zeitung La Croix, aus der hervorging, dass selbst beim harten Kern der Katholiken eine große Skepsis gegenüber dem Projekt Europa eingezogen ist. Ich glaube, das müssen die Bischöfe auch noch mal reflektieren. Selbst unter den Gläubigen, die noch fest zur Institution Kirche stehen, existieren große Zweifel an Europa. 

Stefan Lunte

"Selbst unter den Gläubigen, die noch fest zur Institution Kirche stehen, existieren große Zweifel an Europa."

Der Anstieg der Rechtspopulisten hat sicher nicht nur mit Rassismus und Fremdenhass zu tun, sondern auch mit einem Gefühl von Ohnmacht und Entfremdung. Ich glaube nach einem Wahltag wie diesem sollte man da auch noch mal den Fokus drauf richten.

DOMRADIO.DE: Positiv ist sicher die Wahlbeteiligung zu bewerten. Man spricht davon, dass in Deutschland die zweithöchste Beteiligung jeweils bei einer Europawahl gemessen wurde. Sie haben den Tag selbst als Kommunalpolitiker im Wahllokal der französischen Kleinstadt Moulins verbracht. Können Sie das Bild bestätigen?

Lunte: Absolut. In unserem kleinen Wahllokal hat um 17:45 Uhr Wählerin Nummer 381 das Lokal betreten und damit genau die 50-Prozent-Hürde überschritten. Das ist für das ländliche Frankreich wirklich eine beachtliche Nachricht. In ganz Frankreich ist die Wahlbeteiligung auch um zwei Prozent gestiegen, die ja generell hier einiges niedriger liegt als in Deutschland. 

Die gestiegene Wahlbeteiligung ist definitiv eine gute Nachricht. Das war auch der erste Ansatz der COMECE-Bischöfe, mehr Menschen zur Wahl zu bewegen. Und das hat auch einen Wert.

DOMRADIO.DE: Von Politikverdrossenheit kann man nach diesem Wahltag nicht sprechen, obwohl das Ergebnis gerade der rechten Kräfte vielen Demokraten in Europa nicht schmecken wird. Sollten wir uns trotz des Ergebnisses über die Wahlbeteiligung freuen?

Lunte: Ja. Sonst werden wir auch unglaubwürdig, wenn wir sagen: Wir sind für eine hohe Wahlbeteiligung, aber nur wenn uns das Ergebnis gefällt. Nein, wir sind für eine hohe Wahlbeteiligung, weil das ein Zeichen für die Stärke der Demokratie ist, auch eine Stärkung der europäischen Demokratie. Das lässt sich ja schon in den letzten Jahren sehen, bereits bei der letzten Europawahl 2019 gab es diesen Aufwärtstrend. Nun war es im Jahr 2024 noch mal ein weiterer Schub mit dem Hintergrund all der großen Krisen, die wir vor und hinter uns haben, der Pandemie oder dem Krieg gegen die Ukraine. 

Die Bürger verstehen viel stärker, dass sich die Entscheidungen über die Zukunft unserer Länder und unseres Kontinents im Rahmen der europäischen Institutionen abspielen. Da kann man dann mit der Wahl ein Signal senden, vielleicht nicht zu viel alleine in Brüssel entscheiden zu lassen. Aber die Tatsache, dass mehr Menschen zur Wahl gehen, zeigt, dass die Menschen verstehen: Der europäische Einigungsprozess hat uns an einen Punkt gebracht, an dem wir nur durch gemeinsame Entscheidungen etwas bewegen oder nicht bewegen können. Das bleibt als Signal positiv. 

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Die EU-Bischofskommission COMECE

Etwa die Hälfte der Bewohner in der Europäischen Union sind nach Vatikan-Angaben Katholiken. Um den Dialog mit EU-Institutionen zu pflegen und Anliegen der katholischen Kirche zu Gehör zu bringen, unterhalten die Bischofskonferenzen der 27 Mitgliedstaaten eine eigene Kommission, die COMECE. Die Abkürzung steht für das lateinische "Commissio Episcopatum Communitatis Europensis".

Eingangsschild am Sitz der COMECE in Brüssel / © Julia Steinbrecht (KNA)
Eingangsschild am Sitz der COMECE in Brüssel / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR