Am Abend des 22. Juni 1983 verschwand die 15-jährige Emanuela Orlandi nach ihren Flötenunterricht im päpstlichen Musikkonservatorium Ludovico da Victoria an der Piazza San’Apollinare in Rom. Seitdem ist die Tochter eines Angestellten der Präfektur des Päpstlichen Hauses verschwunden. Was den Fall weltweit interessant macht:
Emanuela Orlandi ist eine der wenigen Personen, die von Geburt her die vatikanische Staatsbürgerschaft besitzen. Das Verschwinden Emanuelas wird als Entführung angesehen. Der Vatikan erhält Informationen, die den Papst dazu veranlassen, sich persönlich einzuschalten.
Am 3. Juli, nach dem sonntäglichen Angelus-Gebet auf dem Petersplatz, spricht Johannes Paul II. davon, dass er die Angst der Eltern Orlandi um ihre Tochter teile, und fordert deren Familie auf, "Vertrauen in die Menschlichkeit derer zu haben, die für das Verschwinden der 15-Jährigen verantwortlich sind".
Insgesamt achtmal wird der Papst mit Appellen zu Gunsten einer Freilassung Emanuela Orlandis an die Öffentlichkeit treten.
Organisiertes Verbrechen, Freimaurerlogen, Geheimdienste
Als Motive für die Entführung werden u.a. eine Freipressung des Papstattentäters Ali Agca und bei der Vatikanbank gehorteter "schwarzer" Gelder genannt. Das Organisierte Verbrechen, Mitglieder von Freimaurerlogen und Geheimdienste unterschiedlicher Couleur betreten die Bühne des Geschehens.
Vatikaninterne Intrigen kommen mehr oder weniger offenkundig zutage. Italiens berühmtester Exorzist, Pater Gabriele Amorth glaubt sogar von Sexspielen im Vatikan zu wissen. Von telefonischen Kontakten der mutmaßlichen Entführer zum Päpstlichen Staatssekretariat wird gesprochen.
Die Mailänder Tageszeitung "Il Giornale" spricht im Fall der Emanuela Orlandi von einer "inestricabile crime-story in salsa vaticana", einer "unentwirrbaren Kriminalgeschichte in einer vatikanischen Soße".
Kaum Aufklärung durch Vatikan
Im Vatikan scheint man kein großes Interesse an Aufklärung zu haben. 1994 tritt der damals 80-jährige Kurienkardinal Silvio Oddi in das Szenario ein. Im Gespräch mit Journalisten berichtet er von beunruhigenden Vorfällen, von denen er zufällig im Vatikan gehört habe.
Oddi erwähnt Gerüchte, Ercole Orlandi habe vor der Entführung seiner Tochter im dritten und vierten Stock des Apostolischen Palastes jemanden gesehen, der dort nichts verloren gehabt habe. Als die italienischen Zeitungen mehr von Oddi erfahren möchten, macht der Kardinal, ansonsten für seine Unerschrockenheit bekannt, einen Rückzieher.
Der Presse gibt der Kardinal zu verstehen, das Päpstliche Staatssekretariat habe ihn eindringlich darum gebeten, nicht mehr über den Fall Orlandi zu sprechen. Pietro Orlandi, der Bruder Emanuelas, aber lässt nicht locker. Er will das Schicksal seiner Schwester aufgeklärt wissen.
Als Papst Franziskus im März 2013 Sant’Anna, der Pfarrkirche des Vatikans, einen Besuch abstattet, kann er dem Pontifex sein Anliegen vortragen. "Emanuela ist im Himmel", tröstet ihn der Pontifex. Die Worte des Papstes sind für Pietro Orlandi kein Trost. Im Gegenteil. Sie führen ihn zu den heiklen Fragen: Weiß der Papst mehr? Wie kann Franziskus sicher sein, dass Emanuela tot ist?
"Es gibt Fälle, von denen glaubt man, dass sie für alle Zeiten in einem tiefen Grab ruhen, doch dann schaufelt sie irgendjemand wieder frei". Diesen Satz gab ein genervter römischer Monsignore von sich, als er nach seiner Einschätzung vorgeblich neuer Erkenntnisse im Fall Emanuela Orlandi befragt wurde.
Neue Hinweise
Im alten Ägypten trat der Nil alljährlich wie ein ehernes Gesetz über die Ufer, und seit jeher sind Ebbe und Flut kalkulierbare Gegebenheiten. Ähnlich verhält es sich mit den Nachwehen des mysteriösen Verschwindens jenes bedauernswerten Mädchens. In einem scheinbar unvermeidbaren Zyklus tauchen Gerüchte, Vermutungen und angebliche "Beweise" zu ihrem Schicksal auf.
Dieser Tage wurde im italienischen Sender "Rai 3" ein bisher unbekanntes Tondokument veröffentlicht. Pietro Orlandi, der Bruder Emanuelas, glaubt auf der Aufnahme eindeutig seine Schwester zu erkennen: "Das ist ihre Stimme!"
Das unvollständige Band bringt auch eine männliche Stimme zu Gehör, die den Vater Ercole Orlandi anspricht und von einem Kontakt zum Päpstlichen Staatssekretariat spricht.
Was mit der jungen Vatikanbürgerin konkret geschehen ist, blieb und bleibt — zumindest für die breite Öffentlichkeit — ein Rätsel. So auch, ob sie noch lebt oder bereits tot ist. Doch auch wenn man ihrem Leben ein Ende bereitet hat, so lässt sich die Tragik des Geschehens nicht wie ein einfaches Grab zuschaufeln.
Der Vatikan muss seine Akten und Erkenntnisse zu Emanuela Orlandi offenlegen, nicht nur als Beitrag zur Aufhellung eines "Cold Case" sondern auch im Interesse seiner moralischen Integrität.