Nach Einschätzung des Jesuiten Klaus Mertes verunsichert eine zunehmende Abwendung der westlichen Gesellschaften vom Christentum nicht nur kirchlich geprägte Menschen. Damit gehe wichtiges religiöses Wissen verloren, dass nicht-religiösen Menschen überhaupt erst einen Bezug zum Glauben eröffnen würde, schreibt Mertes in der katholischen Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit" (August-Ausgabe).
"Papa, wer ist der Mann am Kreuz?"
Mertes berichtet, er sei kürzlich nachmittags in einer leeren Kirche gewesen, als ein etwa zehnjähriges Kind die Kirche betreten habe und seinen Vater gefragt habe: "Papa, wer ist der Mann da am Kreuz?" Die Antwort des Vaters: "Das weiß ich leider auch nicht."
Mertes mahnt daher: "Wenn die Frage danach, wer der Mann am Kreuz ist, unbeantwortet bleibt, geht mehr verloren als nur Wissen um eine historische Kreuzigung auf Golgatha." Es gehe Wissen verloren, das das religiöse Bekenntnis, wonach Jesu Tod Hoffnung für alle Menschen über den Tod hinaus bringt, erst ermögliche. Die Frage, was passiere, "wenn sich unsere westlichen Gesellschaften immer mehr vom Christentum abwenden", gehe daher nicht nur Christen an.
"Tiefe Unbeholfenheit" im Umgang mit dem Religiösen
Es sei auch keineswegs so, dass Erwartungen von Politik und Gesellschaft an die Kirchen in dem Maße abnähmen, wie die Zahl kirchlich-religiös orientierter Menschen sinke. Im Gegenteil wüchsen auch bei Menschen ohne religiöses Interesse Erwartungen an die Kirche. Dies sei oft gepaart mit kulturpessimistischen Untergangsängsten, wonach die Gesellschaft mit der Abwendung von Religion wichtiges Wissen und den Zugang zum kulturellen Erbe in Literatur, Kunst, Musik und Philosophie verliere. Spürbar sei eine "tiefe Unbeholfenheit im Umgang mit religiös geprägten Kulturen hierzulande und weltweit".