DOMRADIO.DE: Warum ist es Ihnen so wichtig, heute diesen Gottesdienst zu feiern und auch die Predigt zu übernehmen?
Pater Klaus Mertes SJ (Deutscher Jesuit): Die Angehörigen der Ermordeten und der Überlebenden feiern jedes Jahr am 20. Juli um 9 Uhr in der Hinrichtungsstätte Plötzensee einen Gedenkgottesdienst. Und ich bin seit Jahren immer wieder gefragt worden, diesen Gottesdienst als ökumenischen Gottesdienst zu halten. Das ist den Angehörigen deswegen sehr wichtig, weil hier Männer und Frauen unterschiedlicher Konfession und Überzeugungen im gemeinsamen Widerstand zusammengefunden haben und darin auch große Gemeinsamkeiten bis hin zu ökumenischen Gemeinsamkeiten entdeckt haben.
DOMRADIO.DE: Die Menschen, die damals Widerstand leisteten, die vielfach diesen Widerstand mit ihrem Leben bezahlen mussten – darf man sie als Märtyrer bezeichnen?
Mertes: Sicherlich. Sie haben ihren Widerstand, ihre christliche Überzeugung, sofern sie als überzeugte Christen in Nachfolge Christi in Widerstand gegangen sind, mit ihrem Leben bezahlt und waren auch bereit, diesen Preis zu zahlen. Das darf man ruhig Martyrium nennen.
DOMRADIO.DE: Sie haben gerade schon gesagt, die Angehörigen, die Kinder und Enkelkinder, die sind mit dabei. Es geht dann auch häufig immer darum, ein Signal der Versöhnung zu senden. Warum ist das wichtig?
Mertes: Die Männer und Frauen des Widerstandes verbanden ihren Widerstand sehr stark mit dem Anliegen der Sühne. Ich zitiere den Jesuitenpater Alfred Delp, der auch ermordet worden ist: "Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind." Dieses "weil" muss man genauer hören. Oder ich zitiere Emmi Bonhoeffer, die sagt, dass der Gedanke, Auschwitz könne nur durch das Blut derer gesühnt werden, die das nicht gewollt haben, ihrem Mann Klaus Bonhoeffer nicht fremd gewesen sei. Sühne und Versöhnung gehören zusammen. Der Widerstand war selbst stark motiviert vom Anliegen der Sühne in Hinblick auf Versöhnung.
DOMRADIO.DE: Ist das überhaupt machbar?
Mertes: Machbar ist das nicht. Es schafft eine Voraussetzung für etwas, was dann Jahrzehnte später geschehen kann. Ich nenne ein Beispiel: Ich bin sehr beeindruckt von Fritz Stern, jüdischer deutschstämmiger Überlebender des Holocausts, der 1954 zu einer Feier im Gedenken des Widerstands des 20. Juli eingeladen war. Und er schreibt anschließend einen Brief an einen Freund, in dem er sagt, dass er tief beeindruckt war von der Trauer der Witwen und der Waisenkinder, die übrig geblieben sind. Und dass ihn das gerührt hat und er plötzlich angefangen hat, sich zu schämen für seinen Hass auf alles Deutsche.
Das ist so ein Moment, an dem einen das Leiden, auch der Preis des Widerstandes, und zwar nicht nur der Männer und Frauen, die ermordet worden sind, sondern eben auch ihrer Angehörigen, die einen riesigen Preis mitbezahlt haben, dann doch wiederum auch auf der Opferseite Herzen rühren kann und dann zu einer neuen Verbindung führt. Aber das ist nicht etwas, was man machen kann, das hat Geschenkcharakter.
DOMRADIO.DE: Und wie geht es den Angehörigen heute?
Mertes: Für die Angehörigen ist das heute ein ganz wichtiger Tag. Selbstverständlich ist die Tatsache, dass ihre Eltern oder Großeltern im Widerstand gestorben sind, für sie ein lebensentscheidendes und lebensprägendes Ereignis, das sie immer wieder neu reflektieren. Wichtig ist gerade den Angehörigen, dass es hier nicht nur um eine Familienfeier geht, sondern dass es natürlich eine weit über die Familie hinausgehende Botschaft gibt, die mit dem Widerstand verbunden ist.
DOMRADIO.DE: Was können wir denn als Christen heute von ihnen lernen? Welche Kraft kann uns ihr Zeugnis geben?
Mertes: Wenn Sie ausdrücklich für uns als Christen fragen, so lautet meine Antwort: Ich schlage vor, dass wir den Tod Jesu auch als Konsequenz von Widerstand verstehen. Und uns verabschieden von einer eher juristisch gedachten Sühnevorstellung, dass man irgendwelche Gegenleistungen erbringen muss, um quitt zu sein, sondern dass eben Jesus selbst im Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Gewalt gestorben ist. Nicht weil er sterben wollte, sondern weil diejenigen, die ihn töteten, wollten, dass er stirbt, weil er zu gefährlich geworden sei.
Das bedeutet für uns Christen heute, dass wir vielleicht auch vom Widerstand her nochmal neu auf Christus blicken und sehen: Wo sind denn hier Parallelen und was kann das dann für uns bedeuten? Nämlich tatsächlich den Rücken gerade zu machen, zu sagen, was man denkt, Dinge anzusprechen, wo man sich vor seinem Gewissen dazu verpflichtet fühlt.
Das Interview führte Tim Helssen.