DOMRADIO.DE: Nicolás Maduro und sein Regime haben das Land in den vergangenen zehn Jahren dermaßen heruntergewirtschaftet, dass es für viele Venezolaner längst ums nackte Überleben geht. Vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund findet die Präsidentschaftswahl jetzt statt?
Thomas Wieland (Abteilungsleiter Ausland beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat): Wir finden ein ursprünglich wegen der Bodenschätze reiches Land vor, in dem die staatlichen Strukturen aber nicht mehr funktionieren und in dem die Versorgung der Menschen nicht gewährleistet ist. Wasser, Strom, alles fehlt. Auch Benzin, um die Waren und die Menschen zu transportieren.
Das führt dazu, dass 52 Prozent der Bevölkerung, die heute noch in Venezuela leben, arm sind. Das führt zudem dazu, dass 25 Prozent der Bevölkerung außerhalb Venezuelas leben. Nicht, weil sie die Nachbarländer so schön finden, sondern weil die Lebensverhältnisse in Venezuela einfach nicht mehr so sind, um dort zu existieren.
Vor diesem Hintergrund garniert der jetzige Präsident Maduro auch noch die künftigen Wahlen mit einer Drohung, nämlich dass gegebenenfalls Gewalt ausbrechen wird, sofern er nicht an der Macht bleibt. Das ist die Situation, in der sich Venezuela kurz vor der Wahl befindet.
DOMRADIO.DE: Maduros Herausforderer Edmundo González führt in den Umfragen deutlich. Dabei ist er eigentlich nur der Ersatzkandidat der Opposition. Inwiefern?
Wieland: Die Regierung fürchtet eine starke Opposition, die diesmal geeint antritt und das zunächst mit der Kandidatin Maria Corina Machado getan hat. Sie hat 93 Prozent Zustimmung bei den Vorwahlen bekommen. Sie zieht die Menschen an, einmal zum Beispiel musste sie auf einer großen Brücke sprechen, weil sie keinen Platz zur Verfügung hatte. Tausende kamen und haben ihr zugehört.
Aber die Regierung hat einfach nicht zugelassen, dass sie ins Wahlregister eingetragen wird. Daraufhin hat es Gespräche mit der Regierung gegeben, auch durch ausländischen Druck, insbesondere der USA. Edmundo González wurde dann von der Regierung letztendlich akzeptiert.
Er hat etwas mehr Nähe zum Chavismus (das ist eine politische Ausrichtung, die als Grundlage die Programme und Regierungsform des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez hat, Anm. d. Red.), er ist ein Diplomat.
Da hat man eher gedacht, mit dem könnte man antreten. Der erhält allerdings die volle Zustimmung der Opposition und auch Frau Machado steht neben ihm, wenn er auftritt. Insofern ist er schon der Kandidat der Opposition. Und ob die Regierung das erreicht hat, was sie mit der Verhinderung von Frau Machado als Kandidatin wollte, stelle ich mal in Zweifel.
DOMRADIO.DE: Warum kann in Venezuela auch dieses Mal wieder nicht von freien und demokratischen Wahlen die Rede sein?
Wieland: Ein Beispiel habe ich ja schon genannt; dass ein Eintrag ins Wahlregister für Oppositionskandidaten schwierig ist. Da entscheidet die Regierung, je nachdem, wen sie zulässt und wen sie nicht zulässt. Ein anderes Beispiel: Etwa fünf Millionen Venezolaner außerhalb des Landes sind wahlberechtigt, aber nur 70.000 konnten sich in den Auslandsbehörden eintragen.
Auch da werden die Wahlmöglichkeiten eingeschränkt. Auch die Drohungen gegen einen möglichen Machtverlust der Regierung spielen da hinein. Es sind keine Wahlbeobachter zugelassen, nur eine kleine Delegation der Vereinten Nationen mit fünf Personen, die EU wurde ausgeladen, weitere Wahlbeobachter aus Lateinamerika ebenfalls. Also, freie Wahlen sehen anders aus.
DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche springt schon lange da ein, wo der Staat versagt und muss Nothilfe an vielen Stellen leisten. Welche Rolle spielt die Kirche jetzt im Vorfeld der Wahlen?
Wieland: Es gibt in etwa 6.000 Freiwillige, die helfen den Bedarf des Alltags abzudecken. Ich habe das selbst mal bei einem Brunnen in der Diözese La Guaira erlebt. Menschen kamen mit großen Kanistern, haben Wasser geholt haben, weil die Wasserversorgung nicht gewährleistet war, und haben das Wasser zu alten Menschen ins Haus gebracht.
Es gibt Ärzte, die ihre Dienste tun, Lehrer und Lehrerinnen, die den Schulunterricht aufrechterhalten. Also, es gibt eine große Zahl an Freiwilligen. Die Kirche ist der Ort, an dem sich Menschen unterschiedlichster Richtungen treffen können, das Zusammenleben einüben können. Das betrifft auch Regierungsvertreter in den Provinzen, in den Städten. Die sind ja auch nicht alle glücklich mit dem, was die Zentralregierung tut.
Die Kirche ist der Ort, wo unterschiedlichste Richtungen zusammenfließen und wo keine Glaubens- oder politische Ausrichtung eine Rolle spielt, wo man zusammenkommt und gemeinsam versucht, konkret etwas für die Menschen zu tun. Außerdem stellt die Kirche Kanäle zur Verfügung, um sich zu informieren, also Radiokanäle, aber auch Zeitschriften. Vor allem über die Jesuitenuniversität Andrés Bello werden Analysen gemacht und den Menschen zur Verfügung gestellt.
Kirche ist einfach vor Ort, überall im ganzen Land präsent und versucht die Menschen zu unterstützen, den Alltag zu meistern.
DOMRADIO.DE: Viele sprechen von einer Schicksalswahl für Venezuela an diesem Sonntag. Was halten Sie für den wahrscheinlichsten Ausgang?
Wieland: Da gibt es verschiedene Szenarien. Das Wort "Cambio", also Wechsel, ist in aller Munde. Die Menschen hoffen auf einen Wechsel. Ich glaube, man kann ihn sich aber nicht so vorstellen, dass gewählt wird und am 10. Januar, wenn der Regierungswechsel wäre, tritt Maduro ab und der neue Präsident beginnt. So stelle ich mir das nicht vor.
Aber wir gehen davon aus, dass die Wahl einen Wechsel einleiten könnte. Dazu ist es wichtig, dass die jetzigen Machthaber gesichtswahrend abtreten können. Das wird schmerzhaft sein, weil die Frage der Gerechtigkeit in den Hintergrund tritt. Aber auf Zukunft hin muss man den jetzigen Machthabern einen Weg bieten, um aus der Situation herauszukommen, damit sich Venezuela langsam verändern kann.
Das Interview führte Hilde Regeniter.