DOMRADIO.DE: Es gibt Angriffe auf Moscheen, auf Muslime, auf Asylbewerberunterkünfte. Eine Welle rassistischer Gewalt hat Großbritannien erfasst. Wie erleben Sie gerade diese aufgeheizte und sehr aggressive Stimmung?
Andreas Blum (Pfarrer der Deutschsprachigen Katholischen Gemeinde in London): Sie bahnt sich eigentlich schon seit einiger Zeit an. Dass es so flächendeckend Konflikte gibt, die also von Belfast bis Plymouth reichen, ist in der Tat überraschend und entspricht eigentlich nicht dem englischen Naturell. So was vermutet und kennt man ja eher aus Frankreich.
Aber es brodelt ja unter der Oberfläche schon eine ganze Zeit. Wir haben das spätestens seit dem neuen Gazakonflikt erlebt auf den Straßen. Mal sind es Roma, mal sind es Muslime. Dieses Mal sind es also weiße Engländer der English Defence League, die auf die Straße gehen und gewaltsam werden. Es ist beunruhigend in diesem Ausmaß und auch bedrohlich.
DOMRADIO.DE: Auslöser der Ausschreitungen waren Gerüchte in den sozialen Medien, dass der Täter der tödlichen Messerattacke auf einen Tanzkurs in Southport am vergangenen Montag, bei dem drei Mädchen getötet und acht Kinder sowie zwei Erwachsene verletzt wurden, ein Islamist, ein Asylbewerber sei. Das hat sich als Fake News herausgestellt. Der 17-jährige wurde in Wales geboren, die Eltern sind aus Ruanda, einem mehrheitlich christlichen Land, nach Großbritannien gekommen. Das wissen natürlich auch die Randalierer inzwischen und sie machen trotzdem weiter. Welche Dimension hat diese Aggression inzwischen?
Blum: Man muss da sehr gut unterscheiden. Dieser Vorfall in Southgate - so schrecklich und schlimm er ist - wird von rechtsradikalen Schlägern, wie es Premierminister Keir Starmer sie genannt hat, missbraucht. Aber es gibt durchaus ein ernstzunehmendes Problem, das sich dahinter verbirgt und das ist die Masseneinwanderung. Wenn man sich die Dimension anguckt: In den letzten Jahren sind mehr Menschen ins Land gekommen als im ganzen letzten Jahrhundert.
Der gesellschaftliche Kitt wächst nicht schnell genug nach, der fängt an zu bröckeln. Gemeinschaften leben nebeneinander, wissen wenig voneinander und leben nicht wirklich zusammen. Das führt dann schnell über die sozialen Medien zu Falschinformationen, die missbraucht werden. Auf beiden Seiten übrigens. In der letzten Nacht gab es zum Beispiel in Birmingham die Fake News, dass es eine rechtsradikale Demonstration gebe. Daraufhin hat sich eine Gegendemo der Linken gebildet, die auch wieder in Gewalt ausartete. Die sozialen Medien und Falschinformationen spielen leider eine große und schlimme Rolle als Brandbeschleuniger in diesem Konflikt.
DOMRADIO.DE: Infolgedessen hören wir jetzt von Menschen mit Migrationshintergrund, die jetzt in Großbritannien in Angst leben, weil sie möglicherweise Zielscheibe von Rassisten werden. Der neue Premier Keir Starmer hat gestern nach einer Sitzung des Krisenstabs gesagt, eine Armee von Polizeikräften stehe bereit, um mit den Ausschreitungen fertig zu werden. Wird man die Lage denn so wieder in den Griff bekommen? Was meinen Sie?
Blum: Es muss erst mal wieder Ordnung geschaffen werden und Ruhe einkehren. Das ist sicherlich richtig. Er hat mehrere Dinge vorgeschlagen, die er neben der Standing Army einrichten möchte, was auch immer diese Eingreiftruppe genau sein soll. Es soll 24 hours Courts geben, also Schnell-Gerichte für Verurteilungen. So soll erst mal Ruhe hergestellt werden.
Aber zu glauben, das ganze Problem einfach nur auf ein paar Radikale oder Randalierer begrenzen zu können, das würde zu kurz greifen. Das würde über kurz oder lang zu weiteren Ausschreitungen führen. Das Problem muss politisch angegangen werden, damit es eine Form von Integration und Zusammenleben gibt, die wirklich trägt und nicht nur ein nebeneinander Leben.
DOMRADIO.DE: Das hat Großbritannien in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren verpasst?
Blum: Ein Stück weit schon. Wir haben es ja bei uns im eigenen Stadtteil erlebt. Die deutschsprachige katholische Gemeinde ist in Whitechapel angesiedelt, ein Stadtteil mit einer der höchsten muslimischen Einwanderung überhaupt. Bei uns spielen eigentlich eher Themen wie Bangladesch, wo ja gerade auch eine Staatskrise herrscht, eine viel größere Rolle als das, was den Rest von England angeht. Man merkt also ziemlich deutlich, dass es da nicht unbedingt ein gemeinsames Interesse an den gleichen Themen gibt.
Und die Regierung kämpft gerade mit einem einem schwerwiegenden Vorwurf. Man wirft ihr nämlich vor, dass sie diese Konflikte oder Krawalle nicht gleich behandelt. Vor ein paar Wochen zum Beispiel gab es in Leeds ebenfalls gewalttätige Krawalle, die kaum Beachtung fanden, die sich natürlich auch nicht auf das ganze Land ausgebreitet haben. Aber dort wäre ein ebenso energisches Eingreifen der Regierung oder der Polizei wünschenswert gewesen. Da ging es um Einwanderer oder Roma. Die Frage der Gleichbehandlung spielt politisch gesehen im Moment auch eine Rolle.
Das Interview führte Carsten Döpp.