Spielt Leon auch gerne Fußball? Während einige Kinder im Innenhof der Kita St. Pius X. kicken, sitzt der Junge auf der Bank und schaut zu. Er guckt groß aus dunklen Augen, sagt aber nichts. "Leon spricht doch nicht!", ruft einer der kleinen Fußballspieler.
Leon hat eine Autismus-Spektrum-Störung und spricht noch nicht mit Worten, erklärt Nicole Zucali, die Leiterin der katholischen Einrichtung im Düsseldorfer Stadtteil Eller. Die Mädchen und Jungen hier wissen, dass Leon nicht redet und sich manchmal zurückzieht; sie finden das normal. Denn wer von Anfang an lernt, dass Menschen sehr verschieden sein können und doch immer gleich viel wert sind, erlebt Unterschiedlichkeit als etwas Selbstverständliches. "Die emotionale Kompetenz der Kinder ist da, sie muss nur gefördert werden", so Zucali.
Kinder mit Förderbedarf willkommen
Die 52-jährige Heilpädagogin leitet die Kita schon seit 2001, seit 2007 arbeitet sie mit ihrem Team inklusiv. Das bedeutet zum einen, dass die Räume alle ebenerdig und barrierefrei sind. Vor allem aber bedeutet es, dass sie im Verhältnis viele Plätze für Kinder "mit besonderem Förderbedarf" haben, nämlich jeweils fünf von insgesamt fünfzehn. Das gilt für die Mäuse-Gruppe für Kinder ab 2 Jahren bis zur Schulpflicht genauso wie für die Fuchs-Gruppe für Kinder ab 3 Jahren. In der Mäusegruppe bieten sie zusätzlich einen Platz für ein unter 3-jähriges Kind mit besonderem Förderbedarf an.
Wobei "besonderer Förderbedarf" vieles heißes kann. "Wer hier einen solchen Bedarf hat, können Sie oft nicht auf den ersten Blick sehen", sagt Pädagogin Zucali. Aktuell haben sie zum Beispiel kein Kind mit körperlicher Beeinträchtigung, das im Rollstuhl sitzen muss. "Wir haben aber immer mal wieder Kinder mit einer Körperbehinderung, die einen Rollstuhl brauchen."
Im Moment haben die Erzieherinnen und Erzieher der Kita St. Pius X. es bei ihren Kindern mit Förderbedarf eher mit Autismus und Autismus-Spektrum-Störungen zu tun, mit sozial-emotionaler Beeinträchtigung, mit Entwicklungsverzögerung in Folge einer Frühgeburt sowie mit Bewegungs- und Sprachentwicklungsverzögerungen. Die Bandbreite ist groß, macht aber nicht das Spezifische der Tagesstätte aus.
Vom gemeinsamen Spielen und Lernen profitieren
"Fragen Sie doch mal die Kinder, was hier besonders ist!" Die Antwort lautet immer wieder gleich: "Unsere Feste!" Zucali, die von den Kindern einfach Nicole genannt wird, freut sich darüber. "Ist es denn wirklich besonders, wenn Kinder mit Beeinträchtigungen in einer Kita sind?", fragt sie. "Unsere Kinder nehmen das nicht so wahr. Jedes Kind ist hier einfach ein Kind." Sie ist überzeugt, dass am Ende alle vom gemeinsamen Spielen und Lernen profitieren – diejenigen mit Handicap genauso wie die ohne und verweist zum Beispiel aufs weit verbreitete Mobbing-Problem an Schulen. "Für Jugendliche heute ist es doch ein Riesenthema, wie jemand zu sein hat, wie jemand auszusehen hat."
Kinder, für die Inklusion alltäglich sei, fänden es dagegen normal, wenn jemand anders aussieht als der Durchschnitt oder sich anders verhält. Natürlich fragten die so genannten Regelkinder auch mal nach, wenn ein Kind mit Förderbedarf zur Therapie geht. "Was macht der da?" Dann erklären Nicole Zucali und ihre Kolleginnen und Kollegen, dass Leon oder Ali oder wer auch immer eben noch ein bisschen sprechen üben muss oder laufen oder was auch immer. "Warum denn?" – "Wir machen ein bisschen Förderung" – "Ach so" – gehen dann typische Dialoge.
Denn in der Kita St. Pius X. integrieren sie die speziellen Förderungen in den Alltag. Dafür arbeiten sie mit einer Praxis zusammen, die sowohl Ergo-, als auch Logo- und Physio-Therapeutinnen und -therapeuten in die Kindertagesstätte schickt. "Wir stellen die Räume, die Eltern legen die entsprechenden Rezepte vor", so Leiterin Zucali. Ihr ist es wichtig, dass die gebotenen Behandlungen im Rahmen der Kitazeit stattfinden können, damit die Kinder nicht noch nachmittags zur Therapie müssen. "Das wäre eine Überforderung; etwa so, als müssten wir Erwachsenen nach einem Acht-Stunden-Tag noch drei Stunden ins Fitnessstudio."
Gemeinsam mit ihrem Team – zwei bis drei Erzieherinnen und Erzieher pro Gruppe – verfolgt Nicole Zucali ein klares pädagogisches Konzept: Die Mädchen und Jungen sollen und dürfen ihren Bedürfnissen entsprechend spielen, basteln oder turnen. "Wir geben zwar Impulse, aber wir bespielen unsere Kinder nicht", erklärt die engagierte Pädagogin.
Musik spielt eine wichtige Rolle
Das Ganze laufe allerdings nicht nach dem Prinzip Laissez-Faire ab, sondern nach klaren Regeln. So gibt es etwa spezielle Zeichen zum Anheften für die einzelnen Bereiche und die Kinder können sehen, ob und wo gerade noch Platz zum Mitmachen ist und sich selbst organisieren. Eine wichtige Rolle in der Kita St. Pius X. spielt auch die Musik, dafür greift Zucali oft selbst zur Gitarre greift und stimmt Lieder an, die Mäuse und Füchse begeistert mitsingen – immer wieder auch Songs mit dezidiert christlichen Texten. "Wir singen alle Hallelu – Hallelujah" zum Beispiel oder "Am Anfang bis zum Ende hält Gott seine Hände über dich".
Dass in den Gruppen auch mehrere muslimische Kinder sind, sei in der Regel kein Problem. "Die Eltern wissen, dass uns als katholischer Einrichtung unser Glaube wichtig ist, dass wir zum Beispiel gern und ausdrücklich Ostern und Weihnachten feiern, Karneval, Sankt Martin und Nikolaus und auch Lieder über Gott und Jesus im Programm haben".
Wer nicht an den Gottesdiensten teilnehmen wolle, die vier Mal im Jahr in Zusammenarbeit mit der Gemeinde gefeiert werden, solle an dem Tag einfach nicht in die Kita kommen. Das allerdings sei in den vergangenen Jahren nur ein einziges Mal vorgekommen, erinnert sich Kita-Chefin Zucali. Ebenso wenig gebe es Schwierigkeiten beim Essen. "Wir haben eine iranische Köchin, die geht auch auf individuelle Bedürfnisse ein." Schweinefleisch stehe ohnehin nur sehr selten auf dem Speiseplan und wenn, dann bekämen alle, die das nicht essen dürfen, eben Halal-Würstchen serviert.
Christliches Menschenbild vermitteln
Dass jedes einzelne Kind gottgewollt ist, in dieser Überzeugung stimmen sie in der Kita St. Pius X zu hundert Prozent mit der offiziellen Lehrmeinung der katholischen Kirche überein. Das leben sie hier jeden Tag, indem sie den Kindern voller Respekt und auf Augenhöhe begegnen – oft auch ganz buchstäblich zu den Kleinen hingekniet.
Zucali und die anderen - darunter eine weiterer Heilpädagogin und mehrere Inklusionsfachkräfte und übrigens auffällig viele junge Männer – wollen den Kindern ganz ausdrücklich ein christliches Menschenbild vermitteln, nach dem jeder Mensch nach dem Antlitz Gottes geschaffen und voller Würde ist. Das klappe deshalb meistens ganz gut, meint Zucali, weil die Mitarbeitenden überdurchschnittlich motiviert seien.
Aber der Fachkräftemangel und knappe Kassen brächten selbstverständlich auch sie und ihre Leute immer wieder an ihre Grenzen. Gerade sind zum Beispiel zwei Stellen unbesetzt; da muss die Leiterin selbst immer wieder in der Gruppenarbeit einspringen und hat noch weniger Zeit für Administratives als ohnehin schon. "Da ärgere ich mich sehr, wenn ich höre, wir seien als kleiner Betrieb einfach nicht wirtschaftlich", gibt Nicole Zucali zu.
Appelle an Politik und Kirche
Von der Politik fühlt sie sich immer wieder im Stich gelassen, aber leider auch von der Kirche. "Wenn die katholische Kirche sagt: "Bitte, liebe Mamis, treibt bloß nicht ab, bringt eure Kinder zur Welt!‘ sollte sie auch auch wirklich dafür sorgen, dass diese Mamis gute Unterstützung bekommen, wenn ihr Kind mit Beeinträchtigung geboren wird."
Ihre Kirchengemeinde tue zwar viel, aber die katholische Kita-Leiterin sieht durchaus Luft nach oben. Von ihrer Gemeinde fühlt sie sich gut unterstützt, aber vom zuständigen Erzbistum Köln könnte noch mehr Hilfe kommen, findet sie – finanziell und ideell. "Ich glaube, kleine Inklusionseinrichtungen wie wir werden oft einfach als Exoten wahrgenommen und nicht genügend gewürdigt."