DOMRADIO.DE: Es ist nicht der erste Fall dieser Art. Im Mai hatte ein Mann aus Afghanistan bei einer Messerattacke einen Polizisten getötet. Im April 2022 war es ein Syrer, der auf Passanten in der Duisburger Innenstadt eingestochen hatte. Kritiker sagen nun, Deutschland hat ein Problem mit jungen, gewaltbereiten Männern aus muslimischen Gesellschaften. Es wirkt so, oder?
Irene Porsch (Flüchtlingsbeauftragte beim
Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln): Wir haben ein Problem mit Extremismus und Fundamentalismus in Deutschland. Das zeigt sich an dieser Stelle mit gewaltbereiten muslimischen, fundamentalistischen Männern. Es zeigt sich aber auch an einem massiven Anstieg rechtsextremer Gewalttaten und es hat sich ebenfalls bei Attentaten wie beispielsweise der NSU gezeigt.
DOMRADIO.DE: Viele Menschen machen sich jetzt Sorgen. Es macht sich ein wenig das Gefühl breit, nicht mehr sicher zu sein. Viele fragen sich, ob es nicht doch ein Fehler war, so viele Geflüchtete aufzunehmen. Sie widersprechen dem. Warum?
Porsch: Erst mal möchte ich das Gefühl ernst nehmen. Es ist ein Gefühl größerer Unsicherheit. Meine Tochter hat heute Morgen gefragt, ob uns das auch passieren kann. Ich finde dieses Gefühl erst mal wichtig. Aber ich wohne auch nicht weit weg von der Keupstraße (In der Keupstraße in Köln-Mülheim gab es im Jahr 2004 einen Nagelbombenanschlag, Anm. d. Red.), da gab es auch lange Zeit keine Sicherheit.
Von einem Fehler zu sprechen, ist immer schwierig. Wir haben 1,3 Millionen Menschen aus Syrien und Afghanistan hier und wir haben einige wenige Gewalttäter und Terroristen. Es ist wirklich schwierig, dass diese vielen Menschen, die sich in den letzten Jahren wunderbar hier integriert haben, auf diese wenigen reduziert und stigmatisiert werden.
Viele haben sich für unsere Gesellschaft eingebracht, haben zum Beispiel auch ukrainische Geflüchtete in den letzten Monaten und Jahren mit unterstützt, nehmen an ganz vielen Stellen auch sehr wichtige Berufe wahr, wovon wir gar nicht genug Fachkräfte haben.
Wir haben 1,3 Millionen Menschen, die hierher geflohen sind, die vor Verfolgung, Folter und gerade auch Extremismus geflohen sind. Das dürfen wir nicht vertauschen.
DOMRADIO.DE: Lassen sich denn mit Jobs, Integration und Bildung solche Taten verhindern?
Porsch: Ich würde es umgekehrt betrachten. Hier in Solingen haben wir einen terroristischen Gewalttäter. Er ist wahrscheinlich von der IS sogar extra eingereist, um diese Attentate zu begehen. Das ist im Moment noch nicht klar. Die Datenlage ist derzeit noch sehr verwirrend. Aber es lässt sich nicht verhindern, weil so jemand natürlich nicht an den Integrationsmaßnahmen teilnimmt.
Aber generell alles, was eine Demokratie, was unsere Gesellschaft stärkt, das stärkt auch die Arbeit gegen Fundamentalismus. Das ist mit Integration und Bildung und Teilhabe auf jeden Fall gewährleistet. Wenn ich selbst wirksam handeln kann, dann bin ich weniger empfänglich für solche Ideologien. Das klingt jetzt wie eine Milchmädchenrechnung, einfach aufgezeigt, aber das ist die Richtung.
DOMRADIO.DE: CDU-Chef Friedrich Merz hat einen Aufnahmestopp für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan gefordert. Viele nennen das populistisch. Gleichzeitig hört man auch immer wieder von Kommunen und Bürgermeistern, die sagen, sie seien überfordert, alleingelassen und bleiben auf den Kosten sitzen. Muss man an diesem Punkt vielleicht doch anerkennen, dass es eine Überforderung gibt?
Porsch: Es ist schlimm, in einer Zeit von einer Überforderung zu sprechen, wo so viele Menschen weltweit auf der Flucht sind wie noch nie zuvor, seitdem die Zahlen erfasst werden.
Aber wir können die Augen nicht vor dem Problem Flucht verschließen: Vor dem Problem, dass es in vielen Ländern extreme klimatische Bedingungen gibt, dass es Gewalt- und Eskalationsbedingungen gibt, die die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat aufzugeben.
Wir müssen in Deutschland sehr genau schauen, wie wir hier die Strukturen verbessern und weiter aufbauen, damit diese Überforderung aufhört. In den letzten Monaten sind die Bedingungen in den Kommunen schon deutlich besser geworden. Wir müssen weiterhin ganz viel in Integration investieren und Kapazitäten reinstecken.
Die OECD hat uns vor wenigen Monaten nicht umsonst sogar gelobt, dass wir das in Deutschland ganz gut machen. In die Richtung müssen wir weitermachen. Zusätzlich müssen wir all die Menschen, die an einer Demokratie interessiert sind, darin bestärken, das voranzutreiben.
Das Interview führte Tobias Fricke.