Noch kurz vor Beginn des Gottesdienstes stellten Helfer Stuhlreihen auf. So voll war die evangelische Stadtkirche an diesem Sonntag. Rund 500 Menschen aus Solingen sind gekommen, um zu trauern und für die Angehörigen der Anschlagsopfer zu beten. Etliche mussten stehen, weil im Saal kein Platz mehr war.
"Wir spüren unsere Hilflosigkeit und unsere Ohnmacht. Unser Vertrauen ist erschüttert", sagte die Pfarrerin der Stadtkirche, Friederike Höroldt, bei der Begrüßung. Sie rang sichtlich um Worte. Fromme Floskeln will hier niemand hören. Im Gebet richtete sie sich an Gott: "Wir legen dir das zu Füßen, was uns belastet und bewegt". Es folgte eine kurze Stille.
Superintendentin: "Gott, wo bist du?"
In ihrer Predigt bezog sich Superintendentin Dr. Ilka Werner auf den Brudermord Abels im Alten Testament. "Mensch, wo bist du?" und "Mensch, wo ist dein Bruder?" seien die ersten Fragen gewesen, die Gott gestellt hat. Auch in den vergangenen zwei Tagen hätten sich die Bürger in der Stadt in Folge der schrecklichen Messerattacke nach dem Wohlergehen ihrer Angehörigen erkundigt.
Nun komme die Frage hinzu: "Gott, wo bist du?" Der Kummer, die Trauer, das Entsetzen seien zu groß. Zwar sei es schwer auszuhalten, keine Antworten zu bekommen. Dennoch warnte Werner vor einfachen Lösungen. Dazu sei die Situation zu vertrackt.
Des Weiteren betonte die Superintendentin, dass Gott den Menschen auch heute noch suche: "in Solingen in unserer Not und Fassungslosigkeit". Er sei auch im Leid der Angehörigen. Werner lud die Gläubigen ein, ihre Verzweiflung "Gott vor die Füße zu kippen".
Kirchenchor rührt zu Tränen
Ein berührender Moment war das Vortragsstück "Prayer for the City". Das Lied hatte der Chor noch am gleichen Morgen eingeübt und sang es mehrstimmig von der Empore, begleitet von Klaviermusik. Darin heißt es unter anderem: "We pray for the city we live in. We pray for our children. We pray for our leaders. We pray for our families".
Viele Besucher wirkten zutiefst bewegt. Später berichtete eine der Chorsängerinnen: "Das haben wir mit viel Herzblut, Kloß in der Stimme und Tränen in den Augen gesungen."
Während der Fürbitten wurden Kerzen angezündet und auf den Altar gestellt, "als Zeichen des stillen Gebets so vieler Menschen und als Licht, das trotz allem in der Welt ist", erklärte Stadtdechant Michael Mohr. Das Gebet schloss die Familien und Freunde der Getöteten ein, die Einsatzkräfte und alle, "bei denen sich die Bilder dieses Abends tief in die Seelen gegraben haben", so Höroldt.
Zusammenhalt und Gemeinschaften seien wichtig
Die reduzierte Liturgie und der Andachtscharakter kamen bei den Besuchern offensichtlich gut an. "Ich fand den Gottesdienst sehr bewegend", berichtet die 45-jährige Lena N., die sonntags regelmäßig in die Kirche geht. Eine andere Frau pflichtet ihr bei: "Als von Hoffnung und Zuversicht die Rede war, die Sonne durch die Kirchenfenster schien. Das war wie ein Zeichen".
Der Gottesdienst fand weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, um einen Moment der Stille und des Einkehrens zu ermöglichen. Viele Menschen kamen in Schwarz. Im Anschluss gab es Gelegenheit, mit einem Seelsorger zu sprechen.
Sorge vor gesellschaftlicher Spaltung
"Es war würdig, dass man der Trauer Raum geben konnte. Man merkt das tiefe Trauma, das in dieser Stadt vorhanden ist", sagte Thorsten Latzel, der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, der mit seiner Frau ebenfalls zum Gottesdienst gekommen war, gegenüber DOMRADIO.DE. Gemeinschaft könne helfen, dieses Trauma zu verarbeiten: "Es ist wichtig, dass wir zusammenstehen und zeigen, welche Werte uns wichtig sind".
Ähnlich äußerte sich Vorsitzende des Solinger Katholikenrats Dr. Ulrike Spengler-Reffgen: "Ich habe große Sorge vor einer Spaltung in unserer Stadt, dass bestimmte politische Kreise sehr einfache Lösungen suchen und alle, die einen Migrationshintergrund haben, über einen Kamm geschert werden. Wir wollen ein friedliches Zusammenleben in dieser Stadt - mit allen, egal woher sie kommen."