Eigentlich sollte es ein Festgottesdienst werden, mit feierlicher Chormusik und interaktiven Elementen. Nun sitzen die Verantwortlichen mittags zusammen und überlegen bei jedem Punkt im Ablaufplan, ob er noch passt. Welche Lieder sind angemessen? Welche Fürbitten treffen die Stimmung der Gläubigen und Trauernden?
Im großen lichtdurchfluteten Gottesdienstsaal nebenan finden sich derweil einzelne Menschen ein. Sie sitzen in den Stuhlreihen, beten, weinen, zünden eine Kerze an. Die Sprachlosigkeit ist greifbar. Am Eingang der evangelischen Stadtkirche bemühen sich alle Anwesenden mit gedämpfter Stimme zu sprechen.
Notfallseelsorger bieten Gespräche an
Eine ältere Dame, die ehrenamtlich mithilft, verteilt Kaffee und Wasser. Notfallseelsorger in lilafarbenen Westen stehen zum Gespräch bereit. Einer von ihnen ist Wolfgang Flüchter. Der empathische Rentner erzählt von einer Frau, die den Anschlag live miterlebt hat: "Sie sagte mir, ich war gestern vor der Bühne und hatte Glück, dass ich nicht direkt in der Nähe war."
Andere Menschen kämen vorbei und berichteten von ihrem Frust, dass so etwas wieder in Solingen passiert sei. Es gehe darum zu schauen, was diese Nachricht mit den Menschen mache. Jeder verarbeite das anders. "Wir müssen eigentlich nur da sein und zuhören. Wir geben keine Tipps", so Flüchter.
Ökumenischer Gottesdienst findet trotzdem statt
Einige Kirchen öffneten heute kurzfristig ihre Türen, etwa St. Joseph im Stadtteil Ohligs. Am Abend wird bei einer Gedenkveranstaltung der getöteten Menschen gedacht, bei der hochrangige Politiker erwartet werden.
Angesichts der Trauer und des Todes soll der ökumenische Gottesdienst am Sonntag den offenen Fragen Raum geben. Das Programm ist deutlich reduziert. Im Anschluss gibt es Gelegenheit, noch eine Weile in der Kirche zu bleiben. "Ich bin überzeugt, dass es gut tut, in dieser Situation nicht alleine zu sein und diese Sprachlosigkeit zu teilen", sagte die evangelische Superintendentin Ilka Werner gegenüber DOMRADIO.DE. "Wir sind da, indem wir als Kirchen versuchen die Fassungslosigkeit auszuhalten und mit hinein in unser Beten zu nehmen", ergänzte der katholische Stadtdechant Michael Mohr.
Oberbürgermeister ruft zu Gebeten auf
Tim Kurzbach, der nicht nur Oberbürgermeister der Stadt ist, sondern auch bekennender Katholik und Vorsitzender des Kölner Diözesanrates, rief die Solingerinnen und Solinger noch am Freitagabend über Facebook zum Gebet auf: "Heute Abend sind wir alle in Solingen in Schock, Entsetzen und großer Trauer. (...) Es zerreißt mir das Herz, dass es zu einem Attentat auf unsere Stadt kam. Ich bitte Sie, wenn Sie glauben, beten Sie mit mir und wenn nicht, dann hoffen Sie mit mir."
Gegenüber DOMRADIO.DE sagte Kurzbach, der Glaube gebe ihm in dieser schwierigen Situation Halt: "Ich hab mir auch die Frage gestellt, wo war der liebe Gott gestern in Solingen? Trotzdem ist mein Glaube und das Gebet die einzige Hoffnung, die ich jetzt noch habe, neben der großen Dankbarkeit für die Ärzte und Sanitäter, die alles getan haben, um Menschenleben zu retten".
Stadt in Schockstarre
Vor der Kirche stehen zahlreiche Medienvertreter. Menschen legen Blumen nieder, manche geben Interviews. Polizeiautos in jeder Straße, der Tatort ist weiträumig abgesperrt. Und mit welchem Gefühl laufen die Bürgerinnen und Bürger an diesem Samstag durch die Innenstadt?
Ein junger Passant meint, man könne nirgendwo mehr hingehen, ohne ein komisches Gefühl zu haben. Er sei zutiefst entsetzt und hoffe, dass der Täter bald gefasst werde. Eine Frau im Eiscafé sieht das anders: "Wir gehen heute trotzdem raus. Wir können uns nicht verstecken, zu Hause bleiben und hoffen, dass nichts passiert. Dann hätten die gewonnen."