Was hat sich 30 Jahre nach Anschlag in Solingen verändert?

"Eine immense zivilgesellschaftliche Bewegung"

Vor genau 30 Jahren veränderte ein rechtsextremer Mordanschlag, bei dem fünf junge Frauen und Mädchen getötet wurden, das Leben in Solingen. In ganz Deutschland sorgte die Tat für Entsetzen. Wie funktioniert das Leben dort heute?

30 Jahre Solinger Brandanschlag / © Martin Gerten (dpa)
30 Jahre Solinger Brandanschlag / © Martin Gerten ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie hat sich die Stadt Solingen seit dem Anschlag vor 30 Jahren verändert?

Dr. Ilka Werner (Superintendentin der evangelischen Kirche in Solingen, Pfarrerin): Es wird ja nicht das erste Mal erinnert. Es wird jedes Jahr daran erinnert. Ich bin selber seit zehn Jahren in Solingen, weiß also nicht ganz genau, was in den ersten Jahren passiert ist.

Aber nach allem, was man jetzt spürt und was ich erzählt bekomme, hat sich eine immense zivilgesellschaftliche Bewegung entwickelt, die sehr deutlich versucht, Integration voranzubringen und Menschen zu befähigen, in Belangen, die die Stadt angeht, mit zu entscheiden sowie miteinander ins Gespräch zu kommen und einfach miteinander zu leben.

DOMRADIO.DE: Der Gedenktag des Verbrechens ist der 29. Mai. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird neben anderen Politikerinnen und Politikern da sein. Welche Bedeutung hat es, dass die Stadt in diesem großen Stil erinnert?

29.05.1993, Solingen: Vor dem abgebrannten Haus bekunden türkische und deutsche Bürger ihr Entsetzen / © Roland Scheidemann (dpa)
29.05.1993, Solingen: Vor dem abgebrannten Haus bekunden türkische und deutsche Bürger ihr Entsetzen / © Roland Scheidemann ( dpa )

Werner: Ich glaube, das hat eine große Bedeutung, weil es zum einen um den Respekt vor den Opfern, vor den fünf jungen Frauen und Mädchen geht, sie einfach nicht zu vergessen und sie auch in den Mittelpunkt zu stellen.

Dann ist es ein ganz tolles Zeichen, wenn hochrangige Politikerinnen und Politiker nach Solingen kommen und mit uns gedenken. Es hat, glaube ich, eine Bedeutung, die darin liegt, dass solche Anschläge nicht Vergangenheit sind.

Es passieren immer wieder Übergriffe gegenüber Muslimen, gegenüber Menschen, die als Ausländer wahrgenommen werden, gegenüber Flüchtlingen. Wir haben mit Antisemitismus zu kämpfen.

Das sind alles Zeichen, dass unsere Gesellschaft nicht immer so offen und respektvoll mit Menschen, die herkommen und die Teil der Gesellschaft sind, umgeht. Dann ist es erst recht wichtig, nicht die Einzelnen aus dem Blick zu verlieren, aber auch an eine Situation zu mahnen, dass so etwas nicht passieren darf und dass wir alle zusammen verantwortlich dafür sind, dies irgend möglich zu verhindern.

DOMRADIO.DE: An diesem Montag wird auch eine Ausstellung im Zentrum für verfolgte Künste eröffnet. Sie heißt "den Opfern ein Gesicht, den Betroffenen eine Stimme geben". Wie kann an dieses schreckliche Ereignis vor 30 Jahren nachhaltig erinnert werden?

Tatort in Solingen (epd)
Tatort in Solingen / ( epd )

Werner: Im Grunde mit dem, was Sie gerade genannt haben. Diese Ausstellung im Zentrum für verfolgte Künste ist nicht nur eine Ausstellung von Kunst, die schon fertig ist. Menschen aus Solingen und anderswoher können hinkommen und ihr Statement in einem Videointerview zu Protokoll geben. Das wird dann Teil der Ausstellung, sodass die Vielfalt der Stimmen, die Vielfalt der Erlebnisse in diesen Tagen von 1993 oder in der Zeit danach einfach auch zu Wort und zu Gehör kommen.

Das war eine ganz schwierige Zeit für die Stadt Solingen, die plötzlich mit dem Anschlag identifiziert wurde und das gar nicht wollte. Es hat auch Randale in der Stadt mit Menschen gegeben, die gar nichts damit zu tun hatten, sodass darum viele Geschichten erzählt werden müssen.

Das Wichtige ist, dass auch dort die Lebensgeschichten der ganz jungen Frauen und Mädchen erzählt und gezeigt werden. Es werden dort auch Bilder von ihnen gezeigt, die an dem Standort, wo das Haus früher stand, installiert werden, sodass auch die Gesichter nicht vergessen werden.

DOMRADIO.DE: Auf welche Weise engagieren sich die Kirchen in Solingen gegen das Vergessen?

Demo in Solingen (dpa)
Demo in Solingen / ( dpa )

Werner: Wir sind immer Teil des Gedenkens, wenn es sichtbar wird. So werden wir an dem Ort einen Psalm beten, den wir etwas umgeschrieben haben, sodass auch die Namen der fünf Toten, also von Hülya, Saime, Hatice, Gürsün und Gülüstan vorkommen.

Das ist ganz wichtig für die Verbundenheit der verschiedenen Religionen. Wir haben einen runden Tisch der Religionen hier in der Stadt, wir haben ein abrahamitisches Gastmahl, was auf der religiösen Ebene Menschen miteinander verbindet und hilft, dass man besser voneinander weiß, wie der andere Glaube funktioniert.

Wir engagieren uns auch in den städtischen Bündnissen für Zivilcourage, Toleranz und solchen Dingen, um an allen Stellen, wo wir können, mitzuhelfen, dass Verschiedenheit als Chance und als neugierig machendes Merkmal verstanden wird und nicht als eins, was Feindschaft hervorruft.

Das Interview führte Katharina Geiger.

NRW-Landtag gedenkt der Opfer des Brandanschlags von Solingen

Mit einer Schweigeminute hat der nordrhein-westfälische Landtag am Freitag der Opfer des rechtsextremistischen Brandanschlags in Solingen vor 30 Jahren gedacht. Bei dem Gedenken waren auch Mitglieder der Familie Genç im Plenarsaal anwesend. Unter ihnen war Durmuş Genç, Ehemann der im vergangenen Jahr gestorbenen Mevlüde Genç. Sie hatte schon kurz nach dem Attentat zur Versöhnung aufgerufen und immer wieder gemahnt, dass dem Hass Einhalt geboten werden müsse.

NRW-Landtag gedenkt der Opfer des Brandanschlags von Solingen / © Roberto Pfeil (dpa)
NRW-Landtag gedenkt der Opfer des Brandanschlags von Solingen / © Roberto Pfeil ( dpa )
Quelle:
DR