Mehr Radikalisierung durch Bedeutungsverlust von Kirchen?

"Zu wenig klare Sinnorientierung"

Die Attacke von Solingen wurde von einer Person mit Migrationshintergrund verübt. Aber auch Deutsche radikalisieren sich islamistisch. Einen Grund dafür sieht die Medienethikerin Claudia Paganini in dem Bedeutungsverlust der Kirchen.

Kerzen und Blumen stehen in der Innenstadt von Solingen. / © Federico Gambarini (dpa)
Kerzen und Blumen stehen in der Innenstadt von Solingen. / © Federico Gambarini ( dpa )

KNA: Frau Paganini, wie beurteilen Sie die bisherige Berichterstattung in den Medien zu Solingen?

Prof. Dr. Claudia Paganini lehrt Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München (privat)
Prof. Dr. Claudia Paganini lehrt Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München / ( privat )

Claudia Paganini (Medienethikerin): Was mir auffällt: Es scheint offensichtlich gar kein Problem für die Medien zu sein, die Herkunft des Verdächtigen zu nennen. Das ist erstaunlich, weil das in der Medienethik und vielen Journalismus- und Pressekodizes ja sehr kontrovers diskutiert wird und grundsätzlich mal so eine Art Konsens herrschte, dass man die Herkunft eigentlich nicht nennen sollte, um keinen ausländerfeindlichen Haltungen Vorschub zu leisten. Von den Öffentlich-Rechtlichen bis zu den kleinsten privaten Online-Medien hat jetzt offensichtlich niemand Schwierigkeiten, die Herkunft zu nennen. Es hat hier einen Rückgang an Sensibilität gegeben, der sich für mich schon länger abgezeichnet hat.

KNA: Gibt es darüber hinaus noch etwas, was besser laufen könnte?

Paganini: Ich würde erwarten, dass man stärker kontextualisiert: Wie viele Messerattacken gibt es in Deutschland insgesamt pro Jahr, wer verübt sie, gibt es da wirklich einen besonders hohen Anteil von Personen mit Migrationshintergrund - so etwas wäre eine sinnvolle Kontextualisierung. Es geht hier nicht darum, zu beschwichtigen und mit der rosaroten Brille in die Welt zu schauen - sondern um relevante Informationen.

KNA: Was meinen Sie damit konkret?

Claudia Paganini

"Wir müssen uns fragen, warum sich auch ganz viele Deutsche radikalisieren, die vielleicht zu wenig klare Sinnorientierung haben."

Paganini: Die Attacke wurde verübt von einer Person mit Migrationshintergrund, die sich radikalisiert hat. Was überhaupt nicht thematisiert wird, ist, wie viele Menschen ohne Migrationshintergrund, in Deutschland geborene Personen ohne Migrationshintergrund in der Familie, sich dem IS angeschlossen haben. Und wir müssen uns fragen, warum sich auch ganz viele Deutsche radikalisieren, die vielleicht zu wenig klare Sinnorientierung haben, weil beispielsweise die Kirchen hier nicht mehr eine so große Rolle spielen. Denen alles irgendwie zu locker ist, zu weltanschaulich offen. Und das ist eben keinesfalls nur ein Problem, was von außen nach Deutschland hereingetragen wird, sondern auch ein Thema drinnen in unserem Land, in unseren eigenen deutschen Familien. Aber dieses Thema wird - soweit ich sehen kann - bislang in den Medien überhaupt nicht aufgegriffen, obwohl das sehr relevant wäre.

KNA: Neben viel Empathie und Mitgefühl begann praktisch unmittelbar nach der Tat auch die politische Diskussion und Vereinnahmung. Passt das zusammen? 

Paganini: Es geht nicht nur um Empathie, sondern vielleicht noch grundlegender um Respekt. Wer diesen Anschlag jetzt für politisches Kleingeld instrumentalisiert, egal in welche Richtung, macht die Betroffenen zum zweiten Mal zum Opfer. Dass jetzt gefordert wird, Menschen einfach in ein anderes EU-Mitgliedsland abzuschieben und so mögliche Probleme vom Innen ins Außen zu verlagern, hat eine ganz eigenartige Logik und ist letztlich eine völlig unmenschliche Haltung. Das Dilemma ist doch, dass in der politischen Debatte primär das Abschiebungssystem kritisiert wird. Doch darum geht es ja gar nicht, denn der Verdächtige sollte ja nicht wegen Terrorverdachts abgeschoben werden, sondern weil er hier kein Asyl bekommen konnte. Das sind verschiedene Dinge.

KNA: Wer profitiert am Ende von der Debatte?

Claudia Paganini

"Für die Parteien aus der rechten Ecke ist das ein perfektes Wahlkampfgeschenk."

Paganini: Für die Parteien aus der rechten Ecke ist das ein perfektes Wahlkampfgeschenk. Für die Strömungen, die diesem ausländerfeindlichen oder rechten Bedrohungstopos entgegenwirken müssen, ist es tatsächlich sehr schwierig.

KNA: Welche Rolle spielt hier der Journalismus? Kann beziehungsweise darf er überhaupt emphatisch sein?

Paganini: Die Frage, ob Journalismus empathisch sein kann oder sein sollte, ist nicht leicht zu beantworten. Deswegen ist mir das mit dem Respekt sehr wichtig. Denn dass Journalismus respektvoll sein soll, scheint mir sehr klar zu sein.

KNA: Weil zu viel Empathie auch die Gefahr birgt, nicht mehr objektiv oder neutral zu berichten?

Paganini: Ich persönlich bin der Meinung, dass es fast nicht möglich ist, völlig neutral zu berichten, weil Journalisten ja immer auch als Menschen beteiligt sind, und dass es deswegen nicht nur legitim ist, sondern auch für die Orientierung des Publikums nützlich sein kann, Haltung zu zeigen. Dann kann man in so einem Fall auch emphatisch berichten - das sollte man idealerweise aber von der reinen faktischen Information klar abgrenzen. 

KNA: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist am Montag nach Solingen gereist. Eine gute Idee?

Claudia Paganini

"Scholz hat gar keine andere Wahl als hinzufahren!"

Paganini: Scholz hat gar keine andere Wahl als hinzufahren! Natürlich gibt es jetzt Stimmen, die sagen, das ist nur Wahlkampf-Strategie, das ist nicht authentisch. Aber ich glaube, wenn er nicht führe, hätte er noch mehr verloren und eine noch schlechtere Presse. Nicht hinzufahren, ist in einer solchen Situation keine Option.

KNA: Aber hilft dies den Betroffenen wirklich? Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ist nach dem Brandanschlag von Solingen 1993 nicht sofort nach Solingen gekommen, musste dafür aber auch massive Kritik einstecken.

Paganini: Ich denke schon, dass die Präsenz von einem hochrangigen Politiker den Menschen das Gefühl gibt, dass sie gesehen und gehört werden, dass sie wichtig sind. Das ist grundsätzlich ein sinnvolles Zeichen und in einer Demokratie noch wichtiger, als immer sofort konkrete Lösung anbieten zu können. Deshalb macht es schon Sinn. Es macht die Opfer natürlich nicht wieder lebendig, und es ist nur ein sehr kleiner Trost für die Angehörigen. Aber sich nicht zu zeigen, wäre sicher noch eine weitere Verletzung für die Betroffenen.

KNA: Wie bewerten Sie die Glaubwürdigkeit solcher Auftritte?

Paganini: Wenn es schon lange ein Problem gibt und ich nicht tätig oder zu wenig tätig geworden bin und mich dann als großer Tröster inszeniere, ist das natürlich nicht glaubwürdig. Die konkrete Situation ist aber sehr schwierig, weil wir hier nicht nur das Migrationsthema, sondern auch das Radikalisierungsthema haben, also zwei hochkomplexe Bereiche, die miteinander verschränkt sind.

Claudia Paganini

"In Zeiten von multiplen Krisen reagieren Menschen besser auf einfache Lösungen."

KNA: Woher kommt diese Bereitschaft zur Radikalisierung?

Paganini: In Zeiten von multiplen Krisen reagieren Menschen besser auf einfache Lösungen, weil sie insgesamt ein Gefühl der Überforderung und der Ohnmacht haben. Destruktive Lösungen wie zusperren, abschieben, gar nicht erst reinlassen, scheinen da in gewisser Weise immer sicherer und einfacher als konstruktive Lösungen zu sein. Das ist ja auch im zwischenmenschlichen Bereich so. Eine Beziehung abzubrechen ist immer einfacher, als an einer problematischen Beziehung zu arbeiten. Grundsätzlich gilt: Menschen, die wenig Perspektiven haben, tendieren zu Aggression und Gewalt, weil dies im Grunde einfache «Lösungen» sind - da habe ich immer sofort eine Wirkung.

Ein Interview mit Steffen Grimberg.

Quelle:
KNA