Die Formen und Ursachen von Migration sind vielfältig. Manch einer rieb sich vermutlich die Augen, als in der ARD eine Dokumentation zu sehen war, in der eine Familie aus Brandenburg berichtete, sie sei an den ungarischen Plattensee migriert, weil man sich in den deutschen Städten als Frau nicht mehr sicher bewegen könne – zu viele arabischstämmige Menschen machten dies schlicht unmöglich. Fluchtursache: Überfremdung.
Die meisten Menschen verlassen jedoch aus nachvollziehbareren Gründen ihre Heimat. Von den rund 120 Millionen Menschen, die im vergangenen Jahr auf der Flucht waren, war meist eine wechselseitige Verstärkung verschiedener Ursachen für den Aufbruch verantwortlich. Eine Zusammenschau der verschiedenen Fluchtursachen macht deutlich, wie vielfältig auch die Ansatzpunkte von Politik sein müssen, um Fluchtbewegungen zu reduzieren.
Zum einen fliehen Menschen weiterhin vor Krieg und gewaltsamen Konflikten. Wer kann, bringt seine Familie so rasch wie möglich raus aus dem russischen Bombenhagel in der Ukraine, den Einsätzen chemischer Kampfstoffe von Assad in Syrien oder einem der anderen heißen Konfliktherde dieser Welt. Auch wer, zweitens, in seiner Heimat fundamentaler Menschenrechte beraubt wird z.B. wegen seiner ethnischen Herkunft, seiner sexuellen Orientierung oder politischen Einstellung verfolgt wird, ist zur Flucht gezwungen, wenn er oder sie nicht im Gefängnis landen oder z.B. den Schlagstöcken der iranischen Sittenpolizei entkommen will. Drittens sind es die in einigen Medien überproportional häufig betonten Ursachen wie Hunger und Armut, die Menschen migrieren lassen. Sind diese Menschen bereits gut ausgebildet, werden sie als Fachkräfte bezeichnet, unterstellt man ihnen primär in das deutsche Sozialsystem einzuwandern, werden sie als "Wirtschaftsflüchtlinge" markiert. Viertens verlassen zunehmend mehr Menschen ihre Heimat, weil sie aufgrund klimatischer Veränderungen unbewohnbar wird. Die Vereinten Nationen rechnen mit rund 140 Millionen Klimaflüchtlingen bis 2050.
Schon im Jahr 2015, als Menschen in bisher ungeahnter Zahl in Deutschland Schutz suchten, wurde recht schnell die Forderung an die Entwicklungszusammenarbeit erhoben, auf die "Fluchtursachen" zu fokussieren. Auch in der aktuellen Migrationsdebatte werden wieder Stimmen – selbst aus moraltheologischer Perspektive – lesbar, die in der Verbesserung der Situation vor Ort den Schlüssel zur Lösung der "Mutter aller politischen Probleme" erkennen, wie es Horst Seehofer einst formulierte.
Doch schon der eingangs vorgenommene Blick auf die Vielfalt der Fluchtursachen zeigt an, dass die Entwicklungspolitik als Reparaturbetrieb einer oft fehlgeleiteten Weltstrukturpolitik mit diesem Ansinnen überfordert ist. Was kann Entwicklungszusammenarbeit aber doch leisten, um jenen, die zur Flucht gezwungen sind, eine Alternative zu ermöglichen?
Eine wertebasierte, menschenrechtsorientierte und aus guten Gründen feministische Entwicklungspolitik nimmt verschiedene zeitliche Horizonte in den Blick. Auf kurze Sicht lindert sie akute Not und hilft Menschen als Not-, Katastrophen- und Übergangshilfe vor Ort, krisenhafte Situationen zu überstehen. Schnelle und passgenaue Lieferungen für die leidenden Bevölkerungen werden hier durch Staat und Zivilgesellschaft bereitgestellt.
Mittel- und langfristig leistet Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag zur Schaffung inklusiver und für alle Bürgerinnen und Bürger lebenswerter sozialer und wirtschaftlicher Strukturen. Dies geschieht einerseits durch Programme zur Stärkung von Beschäftigung durch Bildung und finanzielle Zusammenarbeit. Auch die Unterstützung der Kooperationen mit der deutschen Wirtschaft haben auf der Grundlage anständiger Arbeitsbedingungen einen wohlstandsfördernden Beitrag in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Die Schaffung von politischen Strukturen, die Menschenrechte umfassend achten und Korruption eindämmen, ist deutlich schwieriger zu erlangen. Dazu braucht es eine starke und widerstandsfähige Zivilgesellschaft, in der mutige, in ihren Grundbedürfnissen befriedigte Menschen sich mit Leidenschaft für das Gemeinwohl einsetzen können. Die möglichst breite politische Beteiligung von Menschen aller sozialen Schichten und eine funktionierende Demokratie reduzieren die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen erheblich. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat hier vor allem aufgrund ihrer erfahrenen Partnerstruktur in der deutschen Zivilgesellschaft ein tragfähiges internationales Netzwerk etabliert, zu dem auch und gerade kirchliche Akteure gehören.
Jedoch wird keine noch so wirksame Entwicklungszusammenarbeit verhindern, dass Menschen sich in ihrer Not auf den Weg nach Europa machen. Papst Franziskus hat schon früh in seinem Pontifikat den Umgang der Europäer mit Migranten zum Lackmustest für unsere Menschlichkeit gemacht, als er das Mittelmeer das "Grab der Menschenwürde" nannte. Migration ist für ihn "keine Notlage", sondern schlicht "eine Gegebenheit unserer Zeit".
Den vor zu viel fremden Sprachen, fremdem Aussehen und fremder Religion in seiner Heimat nach Ungarn fliehenden oder jenen, die wie Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz im Überbietungspopulismus zu Unrecht behaupten, ausreisepflichtige Menschen ließen sich in Deutschland "die Zähne neu machen" ruft der Papst innerlich sicher Mt 25,42ff zu: "Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben. Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan".
Aus guten Gründen wird der Papst nicht müde, auf die wechselseitige Pflicht zur Integration als Teil von Migration hinzuweisen. Sowohl die Ankommenden als auch die Aufnehmenden müssen bereit sein, voneinander zu lernen und keine Assimilation zu fürchten. Wo Respekt und Toleranz vor den Kulturen und Traditionen der anderen wahrlich gelebt werden, gibt es keine "Bürger zweiter Klasse", hofft Franziskus. Auch wer im Nächsten nicht Christus erkennt, sondern Allah oder einfach einen Mitmenschen, sieht sich mit absoluten Hilfspflichten konfrontiert. Diese gelten sowohl für die Geflüchteten in Europa als auch für jene in Not an anderen Orten der Welt.
Wie weit diese Hilfspflichten reichen, muss auch jeder selbst ausloten. Für Jesus gehen sie so weit, dass der Jesuit und Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning ihn so übersetzt: "Gebt nicht von Eurem Überfluss. Gebt Euren Überfluss".
Durch die heftigen Kürzungen des Entwicklungsetats oder gar die Auflösung des Entwicklungsministeriums wird man weder den Möglichkeiten wirksamer internationaler Zusammenarbeit gerecht noch dem Ruf des Evangeliums.
Information zum Autor: Dr. Markus Demele ist Generalsekretär von Kolping International.