DOMRADIO.DE: Was versteht man unter Ikonen?
Dr. Lutz Rickelt (Leiter des Ikonen-Museums Recklinghausen): Eine Ikone ist ein Heiligenbild aus der orthodoxen Welt. Der Begriff "Ikone" kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Bild" oder "Abbild".
Es sind Heiligenbilder und Darstellungen von Christus oder Maria. Das Entscheidende ist, dass eine Ikone mehr als nur ein Bild zur Betrachtung ist, sondern dass die orthodoxen Gläubigen in dem Bild das Heilige präsent sehen oder glauben, dass das Heilige durch das Bild erfahrbar wird und auch wirken kann.
DOMRADIO.DE: Sie haben über 4.000 Ikonen in Recklinghausen. Nun rücken Sie mit einer besonderen Ausstellung auch Heilige aus der Ukraine in den Fokus. Wie kam es zu dieser Ausstellung?
Rickelt: Der Anlass war der Überfall von Russland auf die Ukraine. Wir haben uns gefragt, was wir tun können, um die bedrohte Kultur dieses Landes in den Vordergrund zu rücken. Das geht auch damit einher, dass es, so glaube ich, notwendig ist, ganz unabhängig von dieser Situation den Fokus ein bisschen weniger russozentrisch zu setzen.
Das bedeutet, Ikonen aus der slawischen Welt nicht nur aus russischer Perspektive zu zeigen, sondern auch aus den Perspektiven der anderen Identitäten, die eben in dem Raum des früheren Zarenreiches oder der Sowjetunion existieren. Diese Identitäten haben im Moment einerseits vermehrt die Möglichkeit, sich zu entfalten, andererseits sind sie auch immer stärker bedroht.
DOMRADIO.DE: Welche Exponate aus der aktuellen Ausstellung sind besonders beeindruckend?
Rickelt: Eine Ikone hängt am Beginn der Ausstellung gewissermaßen als Einführung in die Thematik. Das ist eine relativ junge Ikone, die aber eine sehr schöne Darstellung zeigt, nämlich die sogenannte Taufe der Kiewer Rus. Das ist das Ereignis, mit der die Christianisierung der slawischen Welt eingeleitet wurde.
Auf dieser Ikone ist eigentlich alles versammelt, was mit dieser Thematik zu tun hat. Zum einen ist das die Taufe an sich: Die wird der Legende und den historischen Quellen entsprechend auch auf der Ikone als Massentaufe im Fluss Dnipro dargestellt.
Aber man sieht auch die wesentlichen Protagonisten: die Fürstenfamilie, den Apostel Andreas, der Kiew mit gegründet haben soll, einen wichtigen Chronisten des Ereignisses, den ersten Metropoliten von Kiew.
Da kann man eigentlich schon alles in einem kleinen Nukleus sehen, was mit dieser Christianisierung zusammenhängt und was dann später in der Ausstellung auch noch im Einzelnen ein bisschen genauer erläutert wird und natürlich auch an einzelnen Exponaten zu sehen ist.
DOMRADIO.DE: Zahlreiche Exponate sind dem Kiewer Höhlenkloster gewidmet. Das ist das größte und bedeutendste Kloster in der Ukraine. Wir muss man sich dieses Kloster vorstellen. Haben Sie das schon mal gesehen?
Rickelt: Leider nicht. Ich war selber noch nicht in der Ukraine. Das ist für mich natürlich ein wichtiges Ziel und ich hoffe, dass das irgendwann möglich sein wird. Das Höhlenkloster ist das wichtigste Kloster in der slawischen Welt.
Das Höhlenkloster war für die Entwicklung des Mönchstums in der slawischen Welt entscheidend, weil es auch eines der ersten war und bis heute eine ganz besondere Ausstrahlungskraft besitzt.
Der Begriff Höhlenkloster bezieht sich darauf, dass es aus Höhlen entstanden ist, in denen Asketen gelebt haben. Später hat man aber auch oberirdische Bauten errichtet. Diese Höhlen waren der Ursprung des Klosters. Dann ist es darüber hinaus gewachsen, aber diese Höhlen gibt es immer noch unterhalb des Klosters. Die Mönche leben darin teilweise noch in ihren Zellen und es gibt Beinhäuser, in denen die Knochen der heiligen Mönche bestattet werden.
Es gibt kleine unterirdische Kapellen und vieles mehr. Es gibt also einen sehr großen unterirdischen Komplex, aber mittlerweile eben auch einen sehr umfassenden oberirdischen Komplex mit über 200 einzelnen Bauten, also Kirchen, Kapellen, einem Refektorium und allem, was zu einem Kloster so dazugehört.
Die Bauten, die dort heute stehen, sind nicht mehr aus der Gründungszeit im elften Jahrhundert, sondern im Laufe der Zeit zerstört und erneuert worden. Das Erscheinungsbild ist sehr barock geprägt, aber auch sehr beeindruckend. Es gibt viel Gold, viel Glanz und Pracht.
DOMRADIO.DE: Was macht denn die Ikonografie der christlichen Heiligen aus der Ukraine und Kiew im Vergleich zu anderen orthodoxen Ikonen so besonders?
Rickelt: Ikonografisch unterscheiden die sich nicht so stark. Die Ikonen, die wir zeigen, stammen ja auch nicht nur aus der Ukraine, sondern es sind auch russische dabei, weil die Heiligen, die in Kiew und der Umgebung gelebt und gewirkt haben, für die ganze slawische Welt wichtige Bezugspunkte sind.
Die Ikonographie ist auch in dieser slawischen Kultur relativ einheitlich. Es gibt aber auch Unterschiede, die man manchmal erkennen kann. Die ukrainischen Ikonen haben eher eine Tendenz zu westlichen Einflüssen. Die ist bei Ikonen aus anderen Ländern vielleicht nicht ganz so ausgeprägt.
DOMRADIO.DE: Es ist ja zu befürchten, dass zahlreiche Kunstwerke in der Ukraine durch den Angriffskrieg von Russland zerstört werden. Viele wurden auch schon zerstört. Haben Sie da einen aktuellen Stand?
Rickelt: Das genau zu beziffern, ist schwierig. Es gibt von der UNESCO eine Sammlung von Meldungen, die dann verifiziert werden. Verifiziert ist nach aktuellem Stand, dass fast 500 Monumente zerstört worden oder beschädigt worden sind.
Aber es gibt sicherlich noch eine ganze Reihe von weiteren Objekten und Monumenten, die auf dieser Liste noch nicht erfasst sind und auch Kleinkunst oder auch Objekte aus Museumssammlungen, die ausgelagert werden mussten oder bedroht sind und nicht mehr gezeigt werden können. Die Kultur ist ganz massiv beeinträchtigt und vieles wird zerstört.
DOMRADIO.DE: Diese Zerstörung ist dann oft unwiderrufbar oder lassen sich diese Ikonen restaurieren?
Rickelt: Das kommt auf den Grad der Beschädigung an, aber das ist prinzipiell natürlich machbar. Das stimmt. Es gab diesen tragischen Fall von der Kathedrale von Odessa, die zerstört worden ist. Die Hauptikone dieser Kirche hat man aber danach in dem Gebäude unzerstört gefunden.
Eine ganz klassische Ikonengeschichte, die sich seit Jahrhunderten immer wieder so ähnlich zuträgt, ist die, dass eine Kirche zerstört wird, die Ikone aber unbeschädigt bleibt.
Das Interview führte Oliver Kelch.
Information der Redaktion: Die Ausstellung "Weißt Du von jenen Heiligen? - Das Christentum in Kiew und der Ukraine" wird bis zum 5. Januar im Ikonen-Museum Recklinghausen gezeigt.