Philosoph Zaborowski würdigt Edith Stein als Impulsgeberin

"Wir müssen uns an die Opfer erinnern"

An diesem Samstag jährt sich der 133. Geburtstag der von den Nazis ermordeten Karmelitin Edith Stein. In der Kirche verehrt man sie als Märtyrerin. Doch sie wirkt bis heute als Philosophin und Mitpatronin Europas weit darüber hinaus.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Holger Zaborowski hat sich intensiv mit den Schriften Edith Steins beschäftigt / © Beatrice Tomasetti (DR)
Holger Zaborowski hat sich intensiv mit den Schriften Edith Steins beschäftigt / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Als Mitherausgeber der Buchreihe "Koordinaten Europas" liegt Ihnen Europa am Herzen. Sie forschen in den Bereichen Religionsphilosophie, Phänomenologie und Hermeneutik. Da kommt man an Heidegger, aber auch an Edith Stein nicht vorbei, die seit 25 Jahren Mitpatronin von Europa ist. Welche Impulse können von dieser vor über 80 Jahren in Auschwitz ermordeten Karmelitin auf die Gegenwart noch ausgehen?

Professor Dr. Dr. Holger Zaborowski (Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt): Von Edith Stein gehen sehr unterschiedliche Impulse aus. In der Fachphilosophie wird sie bis heute rezipiert. Man kann – nicht so sehr in Deutschland, aber in vielen anderen Ländern – sogar ein wachsendes Interesse an Stein als Phänomenologin feststellen. 

Edith Stein ist seit 25 Jahren Mitpatronin Europas und gilt als Impulsgeberin für Kirche und Welt / © Beatrice Tomasetti (DR)
Edith Stein ist seit 25 Jahren Mitpatronin Europas und gilt als Impulsgeberin für Kirche und Welt / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Aber auch ihre eher theologischen oder geistlichen Schriften sind weiterhin von Bedeutung. Manches von dem, was sie geschrieben hat, ist sicherlich veraltet und nur aus Kontexten und Fragestellungen heraus verständlich, die nicht mehr die unseren sind. Anderes ist weiterhin wegweisend und harrt teils noch darauf, wiederentdeckt zu werden. Nicht zuletzt gehen aber von ihrem gesamten Lebensweg Impulse aus. Es gibt ja einige Schulen, die ihren Namen tragen. Oft ist man sich dort des Erbes und des Auftrags, der mit dieser Patronin verbunden ist, sehr bewusst. 

DOMRADIO.DE: Man könnte meinen, die Idee eines starken und geeinten Europas sei mit der wachsenden Bedeutung der Europäischen Union noch jüngeren Datums, aber auch Edith Stein befasst sich schon früh mit dem Gedanken eines erneuerten Europas, ruft gar während des Ersten Weltkriegs nach einer starken Führungspersönlichkeit, die als Autorität Frieden für Europa bringen könnte. Das Regime, das Jahre später kommen und für sie den Tod bedeuten sollte, hatte sie da sicher nicht im Sinn. Können Sie sagen, was Edith Stein bei ihrer Europa-Idee vorschwebte? 

Zaborowski: Edith Stein hat sich anders als einige andere Denker ihrer Zeit selten ausdrücklich mit Europa oder der Europa-Frage beschäftigt, so dass es schwer ist, die Konturen ihrer Europa-Idee genau herauszuarbeiten. Vieles ist vor dem Hintergrund ihrer Biografie verständlich. Sie hat aufmerksam die zeitgeschichtlichen Ereignisse wahrgenommen – und da lag der Bezug auf Europa nahe. 

Holger Zaborowski bei einem Besuch des Edith Stein Archivs mit der stellvertretenden Leiterin Monika Adamczyk-Enriquez / © Beatrice Tomasetti (DR)
Holger Zaborowski bei einem Besuch des Edith Stein Archivs mit der stellvertretenden Leiterin Monika Adamczyk-Enriquez / © Beatrice Tomasetti ( DR )

So wissen wir aus ihren Briefen an den polnischen Phänomenologen Roman Ingarden, dass sie gerade in der Endphase des Ersten Weltkriegs die Frage nach Europa oder Mitteleuropa sehr beschäftigt hat. Im Juli 1917 schreibt sie in einem Brief an Ingarden, dass zwei Dinge ihre Spannkraft aufrecht erhielten: "die Begier zu sehen, was aus Europa wird, und die Hoffnung, etwas für die Philosophie zu leisten". Die Hoffnung, dass sie etwas für die Philosophie leisten würde, wurde sicherlich erfüllt. Mit Entsetzen musste sie jedoch den weiteren Weg Europas verfolgen.

DOMRADIO.DE: Edith Stein selbst war eine durchaus multiple Persönlichkeit und weist für damalige Verhältnisse eine erstaunlich wechselhafte und moderne Biografie – zumal als Frau – auf. Was können wir heute noch von ihr lernen? 

Zaborowski: Wer sich mit dem Lebens- und Denkweg Edith Steins beschäftigt, stößt auf eine faszinierende und in der Tat komplexe Persönlichkeit. Sie war Schlesierin, Deutsche, Europäerin und als Philosophin Weltbürgerin; sie war Jüdin, Atheistin, Christin und Ordensfrau bis hin zum Märtyrertod. Und schließlich war sie als Wissenschaftlerin und Bildungsbeauftragte in den 1910er und 20er Jahren von neuzeitlichem Denken geprägt. Ich empfehle jedem als Einstieg ihre autobiographischen Aufzeichnungen "Aus meinem Leben". 

Holger Zaborowski

"Sie hat radikal – bis in den Tod hinein – für die Wahrheit, die sie erkannt hatte, Zeugnis gegeben. Da war sie unbeirrbar."

Ihr Leben zeigt, dass sie radikal nach der Wahrheit gesucht hat. Es gab eine Phase, in der sie sich als Atheistin verstand. Aber sie verharrte nicht in dieser Haltung, sondern blieb weiter auf der Suche und offen für das, was sie in der Lektüre und im eigenen Nachdenken, aber auch in menschlichen Begegnungen und in der geistlichen Praxis erfahren konnte. 

Und sie hat ebenso radikal – bis in den Tod hinein – für die Wahrheit, die sie erkannt hatte, Zeugnis gegeben. Da war sie unbeirrbar. Das ist vielleicht ihr wichtigster Impuls, unter den sich die vielen anderen Impulse ihres reichen Denk- und Lebensweges einordnen lassen. 

DOMRADIO.DE: Zuletzt ist Europa wieder Bühne eines verheerenden Krieges geworden, den niemand für möglich gehalten hätte. Aber auch innerhalb Deutschlands verhärten sich die Fronten bei den Themen Demokratie, Toleranz, gegenseitiger Akzeptanz und Öffnung. Gibt es Gedanken von Edith Stein, die da weiterhelfen? Inwieweit dient sie als Vorbild?

Zaborowski: Zentral ist für Edith Steins Denken ohne Frage der Begriff der Person. Wir verdanken ihr wichtige Einsichten darin, was es bedeutet, als Person einzigartig zu sein. Personen sind nicht nur Naturwesen, die allein mit (natur-)wissenschaftlichen Methoden verstanden werden können. Sie sind nicht nur materielle Körper und Lebewesen, sondern auch Seelen- und Geistwesen. Wesen, so betont das Stein auch, zu deren Eigentlichem nicht nur gehört, dass sie als Individuen mit anderen Menschen zusammenleben und eine Geschichte haben oder sich selbst erschlossen sind, sondern auch dass sie nach Gott suchen. 

Vielleicht ist dieses Verständnis von Person ein weiterer wichtiger Anstoß ihres Denkens. Denn in der Gegenwart wird nicht selten in reduzierter oder einseitiger Weise darüber, was Personsein ausmacht, nachgedacht. Selbstverständlich gilt es, dieses von Edith Stein überlieferte Verständnis auch in die Gegenwart zu übersetzen und in einen Dialog mit aktuellem Denken zu bringen – so wie Stein zu ihrer Zeit die mittelalterliche Philosophie des Thomas von Aquin mit der damals neuesten Philosophie Husserls in ein Gespräch gebracht hat. 

DOMRADIO.DE: Edith Stein hat ein Lebens- und ein Glaubenszeugnis abgelegt. Was kann uns das im 21. Jahrhundert noch bedeuten?

Holger Zaborowski

"Europäische Politik kann daher nur eine Politik angesichts des abgründigen Unrechts in der Geschichte sein, das Edith Stein zusammen mit so vielen anderen Menschen angetan wurde."

Zaborowski: Edith Stein ist eines der unzähligen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Völlig unschuldig wurde sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermordet. Sie teilte das Schicksal des europäischen Juden und nahm es tapfer an. Wir dürfen heute diese Opfer der Geschichte nicht vergessen. Wir müssen uns an sie erinnern – nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch im Alltag. Europäische Politik kann daher nur eine Politik angesichts des abgründigen Unrechts in der Geschichte sein, das Edith Stein zusammen mit so vielen anderen Menschen angetan wurde. 

Im Kölner Karmel wird in einer Schatulle Erde aus Auschwitz aufbewahrt / © Beatrice Tomasetti (DR)
Im Kölner Karmel wird in einer Schatulle Erde aus Auschwitz aufbewahrt / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Bedeutung von Edith Stein geht aber noch weiter. Sie hat ihren Tod als Akt der Stellvertretung, der Hingabe für andere, verstanden. Das ist ein radikaler und auch kontroverser Gedanke, den man nur aus der Perspektive des Glaubens, mit Blick auf das Kreuz, wirklich verstehen kann. Er verweist darauf, dass zum Christsein auch die Stellvertretung gehört. Nicht zuletzt aufgrund ihres Zeugnisses wurde Edith Stein auch selig- und heiliggesprochen. 

DOMRADIO.DE: In Zeiten vielfältigster Krisen ist Zusammenhalt das Gebot der Stunde: gesellschaftlich und politisch, in Deutschland, Europa, im Nahen Osten und weltweit. Als Papst Johannes Paul II. Edith Stein zur Mitpatronin Europas machte, sollte damit – so die Begründung – "auf dem Horizont des alten Kontinents ein Banner gegenseitiger Achtung, Toleranz und Gastfreundschaft aufgezogen werden, das Männer und Frauen einlädt, sich über die ethnische, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen, um eine wahrhaft geschwisterliche Gemeinschaft zu bilden". Wie weit sind wir von all dem gerade entfernt?

Zaborowski: Wir sind auf der einen Seite sehr weit davon entfernt. Es gibt ja nicht nur den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auf dem "alten Kontinent" gibt es vielfältige Spannungen, Krisen und Probleme, von denen wir täglich in der Zeitung lesen können. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, was in der Vergangenheit alles erreicht wurde. Man denke nur an die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich oder Deutschland und Polen. 

Holger Zaborowski

"Dieser Blick auf die positiven Errungenschaften der letzten Jahrzehnte kann vielleicht dabei helfen, an Europa nicht zu verzweifeln."

Vieles, was erreicht wurde, ist so selbstverständlich geworden, dass es oft gar nicht mehr bewusst ist. Daher ist es wichtig, bei allem Kriegs- und Krisenbewusstsein auch die andere Seite der Medaille nicht aus dem Blick zu verlieren. Dieser Blick auf die positiven Errungenschaften der letzten Jahrzehnte kann vielleicht dabei helfen, an Europa nicht zu verzweifeln. Das kann dann die Grundlage dafür sein, neue Hoffnung zu finden. Und bedürfen wir heute nicht vor allem der Hoffnung, der Zuversicht, dass es sich lohnt, sich für Gerechtigkeit, Frieden und Wahrheit einzusetzen; für ein Europa, in dem die Menschenwürde geachtet wird und Menschen in Freiheit friedlich zusammenleben? 

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Edith Stein und das Edith-Stein-Archiv

Den Geburtstag der Heiligen Edith Stein am 12. Oktober begeht das Kölner Edith-Stein-Archiv mit einem "Tag der Offenen Tür". Eine Führung gibt Einblick in die Schriften-Sammlung und das Leben dieser vom Juden- zum Christentum konvertierten Philosophin, Lehrerin und Ordensfrau. 

Originale Handschriften der Wissenschaftlerin Edith Stein. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Originale Handschriften der Wissenschaftlerin Edith Stein. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR