DOMRADIO.DE: Trotz hoher Verluste rückt Russland offenbar immer näher. Wie geht es den Menschen? Was hören Sie aus Ihrer Heimat?
Julia Chenusha (Geschäftsführerin des deutsch-ukrainischen Vereins Blau-Gelbes Kreuz): Den Menschen geht es nicht erst seit 1.000 Tage schlecht. Es herrscht seit zehn Jahren Krieg, durch die Invasion Russlands. Seit 1.000 Tagen gibt es die volle Invasion in die Ukraine. Die Leute sind verunsichert. Sie haben Angst, was noch kommen wird, aber sie sind sehr mutig. Wir erhalten gute Nachrichten aus der Ukraine, dass die Leute weiterhin Resilienz zeigen. Es sind aber natürlich schwierige Zeiten.
DOMRADIO.DE: Die USA sollen nun wohl weitreichende Raketen liefern, um etwa russische Nachschubwege, Produktionsstätten, Abschussrampen zerstören zu können. Wie stehen Sie dazu?
Chenusha: Ich denke, dass es ist eine richtige Entscheidung, die meiner Meinung nach etwas zu spät kommt. Solche Entscheidungen sollten rechtzeitig kommen, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Wir aus Deutschland sollten diese mutigen Entscheidungen treffen, auch rechtzeitig und ohne Verzögerung. Die Ukraine kann viel erreichen, auch militärisch, wenn sie genug Unterstützung bekommt.
DOMRADIO.DE: Über die deutsche Unterstützung sprechen wir noch. Russland hat jetzt allerdings scharfe Reaktionen angekündigt, sollte es zu dieser Waffenlieferung kommen. Beunruhigt Sie das?
Chenusha: Ich bin mutig. Ich komme aus einer Zivilgesellschaft, die tagtäglich wirklich viel schafft. Wir zeigen Erfolge. Ich denke, dass der Aggressor nur mit einer kräftigen Antwort besiegt werden kann. Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Gerade dieses Telefonat mit Putin war eine Schwäche.
DOMRADIO.DE: Inwiefern? Wahrscheinlich werden solche Kriege nicht auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern am Verhandlungstisch. Ist es nicht immer wieder mal Zeit zu verhandeln?
Chenusha: Ja! Und Verhandlungen werden tatsächlich den Krieg irgendwann beenden. Aber die Ukraine muss an diesem Tisch aus einer Position der Stärke reden können. Dafür müssen wir die Ukraine unterstützen. Wir müssen aus Deutschland unterstützen.
Als deutsche Bürgerin ukrainischer Herkunft würde ich sagen, auch im Interesse Deutschlands müssen wir das tun. Daran hängt auch die Sicherheit unserer Zukunft, unserer Kinder. Das werden wir nur schaffen, wenn die Ukraine Russland besiegt hat.
DOMRADIO.DE: Mit Marschflugkörpern? Taurus?
Chenusha: Ja, das hätte die Ukraine schon längst gebrauchen können, weil die Krimbrücke, die für russische Truppen eine wesentliche Bedeutung hat, damit zerstört werden könnte. Die Ukraine könnte damit wirklich weiter Erfolge erzielen auf dem Kampfplatz.
DOMRADIO.DE: Taurus fliegt 500 Kilometer und könnte durchaus auch Moskau treffen. Damit wäre Russland allerdings extrem bedroht. Sehen Sie diese Gefahr nicht, dass aufgrund von Taurus-Raketen erneut ein besonderer Aggressionsschub aus Russland kommen könnte?
Chenusha: Russland sollte sich bedroht fühlen. Ukrainische Truppen sind auch schon in Kursk. Das ist Krieg! Und Krieg kann überall passieren. Aber die Ukraine darf sich verteidigen und wir müssen unserem Partner, dem ukrainischen Militär vertrauen, wofür sie Taurus einsetzen werden. Sie haben gesagt, was sie damit machen wollen.
DOMRADIO.DE: Am Dienstag um 18.45 Uhr wird die von Ihrem deutsch-ukrainischen Verein Blau-Gelbes Kreuz veranstaltete Demonstration in Köln an der Deutzer Werft starten. Dabei sind Mona Neubauer, die stellvertretende Ministerpräsidentin und Nathanael Liminski, NRW-Europaminister und Chef der Staatskanzlei. Eine Besonderheit ist das Fahrzeug, das die Demo anführt.
Chenusha: Genau, vor unserer Demonstration wird ein Krankenwagen fahren, der in der Charkiw-Region im Einsatz war und dort beschädigt wurde. Wir wollen damit zeigen, wie die Realität des Krieges aussieht. Wir wollen den Menschen zeigen, das ist der Krieg. Das ist, was die Menschen trifft.
Aber wir wollen auch zeigen, dass wir nicht aufhören sollten. Wir müssen die Ukraine unterstützen, damit sie diesen Krieg gewinnt. Wir müssen uns auch dafür einsetzen, damit die Ukraine uns weiterhin unterstützt, auch für die Sicherheits-Zukunft unseres Landes.
Wir gemeinsam können das schaffen. Wir müssen mutig sein. Wir müssen die Politik und die Zivilgesellschaft zusammenbringen, damit wir diese Schritte schaffen. Die heutige Demonstration steht für Freiheit, für Frieden. Wir brauchen Frieden, aber wir brauchen einen gerechten Frieden.
DOMRADIO.DE: Wahrscheinlich wird sich Wladimir Putin nicht einfach aus der Ukraine zurückziehen. Auch die Waffen werden ihn wahrscheinlich nicht besiegen. Welche Perspektive sehen Sie in diesem Krieg, der jetzt schon seit 1.000 Tagen gegen Ihr Land geführt wird?
Chenusha: Ich denke, über die Wahrscheinlichkeit können die Experten besser was sagen. Aber ich sehe ein großes Potenzial, wenn wir der Ukraine rechtzeitig alles geben, was sie braucht und die Ukraine unterstützen, damit sie aus der Position der Kraft, Russland zeigt, was noch kommen kann.
Dann können auch Verhandlungen dazu führen, dass der Krieg beendet wird. Wann das passieren kann, ist auch von uns abhängig, wie wir diese Schritte angehen, ob wir weiterhin zögern mit unseren Entscheidungen. Wir müssen die Ukraine weiterhin nicht nur militärisch, sondern auch humanitär und wirtschaftlich unterstützen. Das liegt an uns. Wir sind dafür verantwortlich, wie schnell das passiert und ich bin großer Hoffnung, dass das auch richtig passiert.
Das Interview führte Tobias Fricke.