DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat denn die Messiaserwartung in unserer von Krisen geschüttelten Zeit?
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Institut für Systematische Theologie an der Universität Wien): Das Zeit- und Weltgefühl hat sich in den letzten Jahren verändert. Schon vor dem Millennium gab es hier und da eine Renaissance von apokalyptischen Motiven. Diese hat sich durch die Terroranschläge vom 9. September 2001, die Folgen des Klimawandels, die Corona-Pandemie und die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten verstärkt.
Durch die Krisenerfahrung ist eine angsterfüllte dystopische Gegenwartswahrnehmung wieder da. Und da taucht die Frage nach dem Kommen des Messias bzw. der Hoffnung, also der Frage der Wiederkunft Christi verstärkt auf.
DOMRADIO.DE: Die Sehnsucht nach einem Erlöser ist groß. Man hat manchmal sogar das Gefühl, dass Politiker in diese Rollen gedrängt werden. Ist das auch eine Gefahr?
Tück: Dass man sich selbst zum Anwalt des Gotteswillens erklärt und Politik so messianisch auflädt, ist natürlich eine Gefahr. Das gibt es sicher auch in evangelikalen Kreisen, die jetzt die amerikanische Politik unterstützen. Dies muss theologisch kritisch bearbeitet werden.
Aber die Grundfrage lautet natürlich: Wir haben in der Heiligen Schrift, im Glaubensbekenntnis und in der Liturgie Spuren, die von der Wiederkunft Jesu Christi reden. Die Frage ist, verstehen wir noch, was wir dort bekennen und glauben? Oder gibt es Erläuterungsbedarf?
Eine Vertiefung der Frage braucht es schon deshalb, weil das Weltbild des Neuen Testamentes, also die antike Vorstellung, dass es einen Himmel, die Erde und eine Unterwelt gibt, unter Bedingungen der modernen Kosmologie so nicht mehr haltbar ist.
Und dann muss man fragen, wie kann unter modernen Bedingungen dieser Topos des Glaubensbekenntnisses, dass Christus kommt, verstanden werden? Und hier sind in der Theologie des 20. Jahrhunderts schon interessante Erklärungsversuche unternommen worden.
DOMRADIO.DE: Im Bewusstsein katholischer Christen spielt die Messiaserwartung kaum noch eine Rolle. Wie auch? Denn Christus war ja schon da.
Tück: Ja, aber das ist gerade der Punkt. Von dem, der gekommen ist, wird erwartet, dass er wiederkommt. Im Neuen Testament gibt es diverse Stellen, die diese Hoffnung zum Ausdruck bringen und an Vorzeichen wie die universale Verbreitung des Evangeliums, das Aufkommen von Christenverfolgungen, kosmologische Erschütterungen binden.
Das Gleichnis vom Feigenbaum, der zu knospen beginnt, ist ein Zeichen der Wachsamkeit. Wir wissen, dass die frühen christlichen Gemeinden geradezu leidenschaftlich das Kommen des Herrn erwartet haben.
"Maranatha" heißt der Ruf der frühen Gemeinden: "Komm, Herr Jesus, komm!" Aber diese gesteigerte Naherwartung ist enttäuscht worden, und die Kirche und ihre Geschichte sind gewissermaßen die Folge enttäuschter Erwartungen.
DOMRADIO.DE: Wie geht denn die katholische Theologie mit der Messiaserwartung heute um? Jesus, der Christus, ist schon zu uns gekommen. Wenn er ein zweites Mal kommt, wie kann man sich das dann vorstellen?
Tück: Die christliche Zeit- und Geschichtswahrnehmung hat einen Fluchtpunkt in der Zukunft. Nicht wir Menschen werden durch Verbesserung die Welt vollenden können, sondern wir erwarten die Vollendung von Gott her durch Jesus Christus. Die Frage ist, wie versteht man das jetzt konkret?
Der Theologe Karl Rahner hat gesagt: Christus kommt, indem wir bei ihm ankommen, und zwar in der Todesstunde. Das ist eine individuelle, auf den persönlichen Tod fokussierte Umdeutung der Messiaserwartung.
Sein Schüler Johann Baptist Metz hat gesagt, diese Spiritualisierung und Individualisierung ist mir suspekt. Ich möchte schon die politische Relevanz des Glaubens an die Wiederkunft Christi zur Geltung bringen. Für ihn war der Horizont der befristeten Zeit wichtig, einfach als ein Stachel für die Nachfolge.
Wer die Stimmen der Armen und Opfer hört und sich praktisch mit ihnen solidarisiert, der trägt schon zum Aufbau des Reiches Gottes bei und arbeitet dem Kommen Christi vor. Bei Joseph Ratzinger ist die Eucharistie die Parusie. Christus kommt und gewährt seine verborgene Gegenwart im gebrochenen Brot.
Und so gibt es eine ganze Palette von Deutungsversuchen, die allerdings alle eines gemeinsam haben. Sie machen keine konkreten Angaben, wann er kommt, wie er kommt und wo er kommt. Man achtet den eschatologischen Vorbehalt und vermeidet bewusst konkrete Spekulationen darüber, wie das zweite Kommen Christi aussieht. Dieser Vorbehalt ist natürlich im Neuen Testament schon verankert, dass man eben keine konkreten Termin-Spekulationen betreiben soll.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet die Messiaserwartung für unser praktisches Tun? Sie haben gesagt, Johann Baptist Metz folgert daraus, dass wir uns mehr um die Armen kümmern sollen, wir sollen sozial handeln. Was können wir denn noch aus der Messiaserwartung folgern?
Tück: Es gibt die Deutung, der ich zustimme, die sagt: Indem wir das Evangelium nicht nur hören, sondern es in der Alltagspraxis versuchen umzusetzen, indem wir die Eucharistie als Wandlungsimpuls für ein Leben in der Nachfolge verstehen, sind und werden wir Multiplikatoren des Kommens Christi in dieser Welt. Hier wird durch uns das Reich Gottes anfänglich schon mit aufgebaut.
Aber das, was hier beginnt, hat mit der Erwartung des Kommens des Herrn zugleich einen Verheißungsaspekt. Wir gehen jetzt in die Adventszeit. Advent ist nicht nur der Vorlauf auf Weihnachten, nicht nur, dass wir das Kommen des Herrn erwarten, sondern umgekehrt auch, dass Gott auch auf uns wartet, wie der himmlische Vater, der mit offenen Armen die von Not beladene Kreatur bei sich aufnimmt. Diese Ausrichtung unserer Zeit auf das Kommen des Herrn wird in den Lesungen, aber auch im Glaubensbekenntnis und in der Liturgie angesprochen.
DOMRADIO.DE: Wie kann ich das denn bewusst in der Adventszeit erleben und für mich auch umsetzen?
Tück: Man kann sich noch einmal bewusst machen, dass das Leben nicht einfach immer so weitergeht. Bei sich selber kann man Zeiten der Unterbrechung, des Innehaltens, der Wachsamkeit setzen, sich bewusst machen, dass das Leben einen Fluchtpunkt hat und dass auch wir erwartet werden. Darauf dürfen wir im Glauben wirklich hoffen, dass wir erwartet werden.
Das ist auch ein Kontrapunkt gegen die resignative Haltung, die uns suggeriert, dass am Ende ja eh alles egal und gleichgültig ist. Nein! Gott hat ein Interesse an uns und an unserer Lebensführung.
Wenn wir uns im Glauben bewusst machen, dass wir erwartet und befragt werden, dann kann das auch noch mal einen transformativen Impuls, also ein Wandlungsaspekt, bedeuten. Der Advent ist im Kirchenjahr eigentlich eine gute Zeit, neu anzufangen mit Christus, mit der Hoffnung auf ihn, mit einem Lebensstil in seiner Spur.
DOMRADIO.DE: Messiaserwartung unter Christen ist etwas ganz anderes als unter Juden. Der Messias war schon da, auch wenn er noch einmal kommen wird. Im Grunde ist es im Judentum eindeutiger. Der Messias wird noch kommen.
Tück: Der Rabbiner Walter Homolka hat vor zwei Jahren ein Buch mit dem Titel „Der Messias kommt nicht“ publiziert. Damit hat er uns Christen und Christinnen gespiegelt, dass es eine Projektion sei, zu meinen, dass alle Juden gleichermaßen auf einen Messias warten würden.
Das Judentum ist bekanntlich vielgestaltig. Es gibt liberale, reformorientierte, orthodoxe, ultraorthodoxe Stimmen, und es gibt in der Geschichte des Judentums, darauf verweist Homolka, eine ganze Serie von gescheiterten Messiasgestalten. Angesichts dieser Ernüchterung und Desillusionierung sagt er: Lassen wir mal diese allzu konkrete, auf eine Person gerichtete Erwartung und bleiben nüchtern stehen. Andere sagen wiederum anderes.
Was ich in der Beschäftigung mit dem Thema gelernt habe, ist, dass es zwar im täglichen Gebet für orthodoxe Juden diesen Topos gibt, der Messias möge kommen und Israel erlösen, dass er aber sehr unterschiedlich verstanden wird, teilweise eben auch ethisch umgedeutet wird, teilweise gar nicht auf eine Person gerichtet ist, sondern auf eine messianische Zeit, in der Gerechtigkeit und Frieden deutlich werden.
Signifikant für die unterschiedlichen jüdischen Messiaserwartungen ist es, dass sie eine konkrete Veränderung der Geschichte und Gesellschaft erwarten, die quasi die kommende Welt dann vorbereiten, während Christinnen und Christen mit ihren theologisch getönten Hoffnungen gleich aufs Jenseits abzielen.
Diese Jenseitsorientierung wird vor dem Hintergrund des jüdischen Einspruchs, dass sich die Welt durch das Kommen Christi doch noch nicht signifikant geändert habe, nur dann richtig verstanden, wenn sie Rückkopplungseffekte auf das Leben im Diesseits hat und nicht zu einer billigen Vertröstung der schwierigen Zustände hier ist.
DOMRADIO.DE: Wie ist das denn ökumenisch betrachtet? Wie gehen wir da mit der Messiaserwartung um? Es gibt da von Martin Buber eine Überlegung, die Sie für uns zitieren könnten?
Tück: Ja, Buber hat den Gedanken einer Ökumene der Erwartung angesprochen, dass quasi die jüdische Messiaserwartung und die christliche Hoffnung auf das Kommen des Herrn am Ende doch zusammenlaufen könnten. Er hat das sehr poetisch ausgedrückt.
Ich zitiere: "Wir alle warten auf den Messias. Sie glauben [also die Christen], er ist bereits gekommen, ist wieder gegangen und wird einst wiederkommen. Ich als Jude glaube, dass er bisher noch nicht gekommen ist, aber dass er irgendwann kommen wird. Deshalb mache ich ihnen einen Vorschlag. Lassen Sie uns gemeinsam warten".
Und um jede Form von triumphalistischer Rechthaberei auszuschließen, fügt Buber dann verschmitzt hinzu. Ich zitiere noch einmal: "Wenn er dann kommen wird, fragen wir ihn einfach. Warst du schon einmal hier? Und dann hoffe ich, ganz nah bei ihm zu stehen, um ihm ins Ohr zu flüstern. Antworte nicht!"
Das Interview führt Johannes Schröer.
Das Interview zum Nachhören finden Sie hier.