DOMRADIO.DE: Wie stellt sich für Sie die aktuelle Lage in Syrien nach dem Sturz von Assad dar?
Johannes Seibel (Pressesprecher missio Aachen): Grundsätzlich freuen wir uns, dass das Regime überwunden werden konnte. Die Situation ist dynamisch und unübersichtlich. Jetzt gibt es für die Syrer die Möglichkeit, das Land neu zu gestalten. Dabei wird es entscheidend sein, ob es gelingt, dass wirklich alle Bürgerinnen und Bürger künftig die gleichen Freiheitsrechte genießen können. Das ist der Punkt, an dem sich die Zukunft Syriens entscheiden wird.
DOMRADIO.DE: Bundeskanzler Olaf Scholz hat gesagt: Alle Religionsgemeinschaften, alle Volksgruppen und alle Minderheiten müssen Schutz bekommen. Allen Syrerinnen und Syrern müsse ein Leben in Würde und Selbstbestimmung möglich gemacht werden. Daran will er die zukünftige syrische Regierung messen. Weshalb schlagen Sie von missio vor, sich bezüglich des Schutzes der Minderheiten auf den türkischen Präsidenten Erdogan zu konzentrieren?
Seibel: Das ist ein Weg, den wir gehen müssen. Die Rebellengruppe HTS, die Aleppo, Homs und Damaskus befreit hat, mit anderen Gruppen zusammen, kommt aus einer Al Qaida-Ideologie heraus. Deren Führer al-Dscholani sagt, er hat gelernt und sich gemäßigt. Diese Gruppe wird insbesondere von der Türkei und auch von Katar unterstützt. Insofern ist es für die Bundesregierung und für die westliche Diplomatie wichtig, auf Erdogan und auf Katar Einfluss zu nehmen, damit diese wiederum mit der HTS sprechen. Das Thema der gleichen Rechte sollte von Beginne an für alle bei den Verhandlungen eine große Rolle spielen.
DOMRADIO.DE: Viele hoffen auf eine Besserung der Situation im Land. Vom Projektpartner von missio Aachen, Robert Chelhod, wissen Sie, dass eine neue politische Phase eingetreten sei in dem Land. Wie könnte die aussehen?
Seibel: Erstens ist es wichtig zu sagen, dass seit dem Sturz Aleppos Übergriffe gegen Christen und Christinnen bisher nach unseren Informationen ausgeblieben sind. Es gab keine Übergriffe gegen Häuser, gegen Kirchen, gegen Institutionen. Das ist eine wichtige Nachricht. Zweitens haben wir von unseren Partnern gehört, dass die HTS-Rebellen ständig folgende Signale aussenden: 'Es passiert euch nichts, wir wollen mit euch zusammenarbeiten.' Sind das taktische Überlegungen? Wird es sich wie in Afghanistan entwickeln? Das wissen wir nicht.
Zunächst müssen wir sehen, dass die HTS-Rebellen positive Signale aussenden. Was unser Partner Robert Chelhod und andere fordern ist, dass nicht wieder Großmachtinteressen von außerhalb das Schicksal der Syrerinnen und Syrer bestimmen. Dafür ist es wichtig, dass innerhalb Syriens, innerhalb der verschiedenen Gruppen, eine Übereinkunft stattfindet, wer das Land künftig führt, wie eine neue Regierung gewählt wird und alle Bürgerrechte für alle durchgesetzt werden.
Dann müssen weitere Fragen geklärt werden: Was passiert mit den Sanktionen gegen Syrien, gegen Assad? Die trafen vor allen Dingen die einfache Bevölkerung. Wie geht es mit der Wirtschaft weiter? Wie kann hier eine Entmilitarisierung stattfinden?
DOMRADIO.DE: Es gibt Gerüchte darüber, dass die Rebellen den Franziskanerbischof Hanna Jallouf zum Gouverneur machen wollten. Das habe dieser abgelehnt. Was aber sagt das Ansehen von Bischöfen wie ihm Ihrer Meinung nach über die Stellung des Christentums aus?
Seibel: Zu diesen Spekulationen können wir noch keine Stellung nehmen. Ich weiß, dass Bischöfe und christliche Gruppen großen Respekt und große Anerkennung in der muslimischen Welt genießen.
Ich kann zum Beispiel an den Bischof von Homs erinnern, Jacques Mourad, der 2015 vom "Islamischen Staat" entführt worden war. Er kam auf Fürsprache von Muslimen frei, weil von seiner Arbeit Muslime, Christen und andere Gruppen gleichermaßen profitieren konnten und er für den interreligiösen Dialog eintrat. Es gibt Bischöfe, die genießen in der gesamten Gesellschaft Syriens eine hohe Wertschätzung. Es ist aktuell offen, wie die Kirche und die verschiedenen Kirchenführer sich verhalten.
Das Interview führte Katharina Geiger.