Nahost-Experte befürchtet Exodus der Christen in Syrien

"Christen sind Hauptleidtragende"

Die Zahl der Christen in Syrien sinkt stetig, beklagt Nahost-Experte Matthias Kopp. Ihre aktuelle Lage in Aleppo sei verheerend. Umso mehr bewundert er den Mut vieler Christinnen und Christen, sich für ihre Mitmenschen einzusetzen.

Autor/in:
Jan Hendrik Stens
Aleppo: Rauch steigt während der anhaltenden Kämpfe zwischen den syrischen Oppositionskräften und syrischen Regimetruppen, die von iranischen Milizen unterstützt werden, in der Umgebung von Aleppo auf / © Anas Alkharboutli (dpa)
Aleppo: Rauch steigt während der anhaltenden Kämpfe zwischen den syrischen Oppositionskräften und syrischen Regimetruppen, die von iranischen Milizen unterstützt werden, in der Umgebung von Aleppo auf / © Anas Alkharboutli ( dpa )

DOMRADIO.DE: Warum ist es jetzt zur Invasion der Dschihadisten in Syrien gekommen?

Matthias Kopp (KNA)
Matthias Kopp / ( KNA )

Matthias Kopp (Nahost-Experte und Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz): Was wir an Drama derzeit in Syrien erleben, ist durchaus eine politische Überraschung. Offensichtlich hat man in einer Situation, in der Assad geschwächt zu sein scheint, die Chance genutzt, alte Rechnungen zu begleichen. 

Es steht für viele außer Zweifel, dass die Türkei hier einen enormen Einfluss auf die Dschihadisten hat. Beobachter vermuten mittlerweile auch, dass sich die Dschihadisten diesen Schritt nicht getraut hätten, wenn sie keine Unterstützung aus der Türkei bekommen hätten. Deshalb wird für die Lösung dieses Konfliktes die Rolle von Erdogan in der Türkei wesentlich sein. 

Ich bin derzeit nicht sicher, wie sich das Ganze weiter auswirkt, welche Rolle andere spielen werden, welche Rolle hier auch die Europäische Union spielen kann. Wichtig ist, dass die Türkei hier der zentrale Player ist, der auch durch die internationale Gemeinschaft angefragt werden müsste.

Matthias Kopp

"Deshalb wird für die Lösung dieses Konfliktes die Rolle von Erdogan in der Türkei wesentlich sein."

DOMRADIO.DE: Ist das Regime Assads durch den Krieg Israels gegen die Hisbollah zusätzlich geschwächt?

Kopp: Ja, ganz sicher. Denn Assad, der immer versucht hat, die Hisbollah über die Achse Teheran-Damaskus in den Südlibanon hin zu unterstützen, ist durch diesen gesamten Konflikt geschwächt. Einerseits, weil die Hisbollah für Israelis derart geschwächt worden ist, dass sich das wiederum auf Damaskus auswirkt. Andererseits kann sich Damaskus, also das Regime Assad, derzeit nicht darum kümmern, die Hisbollah-Kämpfer wesentlich zu unterstützen. 

Mittlerweile ist bekannt geworden, dass das iranische Regime Militärmaschinen in Hama hat landen lassen, von wo aus schweres militärisches Gerät für die Hisbollah zur Unterstützung in den Libanon gebracht worden ist. Hier wird eine Eskalation des Konflikts auf vielen Seiten geschürt. Wie sich das für Syrien auswirkt, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. 

Matthias Kopp

"Hier wird ein supranationaler Konflikt auf einem kleinen Territorium wie dem Land Syrien ausgetragen."

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen die Präsidenten der benachbarten Türkei und Russlands, Erdogan und Putin, in der Region?

Kopp: Erdogan ist ein entscheidender Player dieses Spiels, denn ohne ihn hätten die Dschihadisten diesen Vormarsch auf Aleppo und weitere syrische Städte nicht gewagt. Wir haben das alte Spannungsverhältnis, das nun die Frage aufwirft, welche Rolle Putin spielen wird. Wird er seinen alten Freund Baschar al-Assad fallen lassen, mit dem er zusammen auch Urlaub gemacht hat? Oder wird er eine Position einnehmen, die Assad unterstützt und sich damit gegen Erdogan wenden? 

Das könnte ein spannungsreiches Verhältnis zwischen Russland und der Türkei bedeuten. Putin ist in der besonderen Situation eines Mehrfrontenkrieges, Stichwort Ukraine, Stichwort mögliche Entwicklungen in Georgien, Stichwort mögliche Entwicklung in Syrien. Hier wird ein supranationaler Konflikt auf einem kleinen Territorium wie dem Land Syrien ausgetragen. 

DOMRADIO.DE: Seit 2011 tobt in Syrien der Bürgerkrieg und seitdem flüchten Menschen aus diesem Land. Welche Auswirkungen hat das gegenwärtige Geschehen auf die Fluchtbewegung?

Kopp: Die Auswirkungen sind derzeit noch nicht erkennbar. Problematisch sind nach wie vor die rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge, die seit mehreren Jahren in Anatolien, in der Türkei durch Erdogans Flüchtlingsdeal mit der Europäischen Union aufgehalten werden. Es gab in den vergangenen Monaten Anzeichen, dass Erdogan Druck auf Assad ausübt, um diese Flüchtlinge zurückzunehmen, weil Erdogan in der Türkei zunehmend unter Druck gerät. 

Eben diese Flüchtlinge sind in der Gesellschaft nicht mehr so akzeptiert wie vor vielen Jahren, als Erdogan sie großartig willkommen geheißen hat. Das Land hat eine extreme Inflation erfahren. Der Unmut der türkischen Bevölkerung gegenüber diesen Flüchtlingen wächst. Dadurch entstehen einige Fragen: Wie kann sich das auswirken? Können syrische Flüchtlinge aus der Türkei überhaupt zurück nach Syrien? Das ist derzeit wohl kaum der Fall. Wird es eine neue Flüchtlingswelle geben? Das ist zu befürchten. 

Wir sehen die Bilder, auch teilweise in unabhängigen Medien, von neuen Flüchtlingstrecks Richtung Damaskus, aber auch Richtung syrischer Grenze. Wir hatten in den vergangenen zwei Jahren gedacht, dass sich die Situation längst beruhigt hätte. Das war wohl ein Trugschluss. 

DOMRADIO.DE: Die Lage der Christen und anderer Minderheiten galt in Syrien immer als schwierig, hatte sich aber in der Vergangenheit einigermaßen stabilisiert. Wie wird sich das jetzt - auch nach einer temporären Beruhigung der Situation - entwickeln?

Matthias Kopp

"Die Situation für die Christen in Aleppo muss verheerend sein, denn sie sind mitunter die Hauptleidtragenden dieses dschihadistischen Sturms. "

Kopp: Die Lage ist nach wie vor prekär. Wir hatten vor Beginn des Krieges, also vor 2010, rund zehn Prozent christliche Bevölkerung in Syrien. Heute sind es maximal noch die Hälfte, wenn überhaupt. Die Bischöfe und Patriarchen beklagen diesen extremen Exodus der Christen, den es in den vergangenen Jahren gegeben hat. 

Die Situation für die Christen in Aleppo und auch den kleinen christlichen Ortschaften um Aleppo, muss verheerend sein, denn sie sind mitunter die Hauptleidtragenden dieses dschihadistischen Sturms. Ob irgendeine Form von Vermittlung darüber, ob man die Christen als Staatsbürger anerkennt, derzeit geführt werden kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Es wäre sehr zu hoffen. 

Und wie könnte sich die Situation temporär beruhigen? Ein Waffenstillstand? Ein Aufhalten der Dschihadisten? Das haben wir in den vergangenen Tagen schon erlebt. Das wäre eine Option. Aber die Grundsituation der Christen wird sich dadurch nicht wesentlich verbessern. Ich finde es beeindruckend, dass unsere christlichen Schwestern und Brüder trotz dieser bedrückenden Lage, ob sie orthodox sind, ob sie Lateiner sind oder eine andere Konfession haben, ihre Hilfsbereitschaft für die Bevölkerung aufrechterhalten. 

Was die katholische Caritas nach wie vor in Syrien trotz des Bürgerkrieges und trotz des Dschihadistensturms leistet, ist aller Anerkennung, Respekt und vor allem aller Unterstützung wert.

Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.

Christen in Syrien

Syrien gilt als Wiege des Christentums. Vor dem 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg waren laut Daten der Linzer "Initiative Christlicher Orient" etwa 7 Prozent der damals 21 Millionen Syrer christlich. Aktuelle Zahlen sind schwer zu ermitteln, auch weil mindestens 5,5 Millionen Syrerinnen und Syrer aus dem Land geflohen sind. Nach verschiedenen Schätzungen soll es noch maximal 500.000 Christen in Syrien geben. Rund drei Viertel der Syrer sind sunnitische Muslime, etwa 12 Prozent gehörten vor dem Krieg der Sekte der Alawiten an, darunter auch der nun gestürzte Assad-Clan. 

Außenansicht der Kirche Sankt Georg in Izra (Syrien) / © Karin Leukefeld (KNA)
Außenansicht der Kirche Sankt Georg in Izra (Syrien) / © Karin Leukefeld ( KNA )
Quelle:
DR