DOMRADIO.DE: "Kraftort Rom" ist im Oktober erschienen. Im April ist Notker Wolf unerwartet an den Folgen eines Herzinfarktes, ausgerechnet nach der Rückkehr von Rom, gestorben. Was hat sein Tod für dieses gemeinsame Projekt bedeutet?
Corinna Mühlstedt (Journalistin): Das war in der Osterwoche. Wir haben noch telefoniert, ganz harmlos, uns frohe Ostern gewünscht. Er ist dann mit dem bayerischen Pilgerbüro nach Rom gereist. Ich war schon in Italien, allerdings auf Ischia, weil ich einen Husten hatte, den ich auskurieren musste. Wir wollten uns am Ende seiner Reise in Rom treffen und an unserem Buch weiterarbeiten. Am Dienstag nach Ostern bekomme ich plötzlich eine Mail von ihm, in der er schreibt, es ginge ihm schlecht, sie seien auf der Höhe von Florenz, er müsse seinen Arzt aufsuchen und zurückfliegen.
Ich habe ihm dann noch, weil er vorher mal erwähnte, dass er eine leichte Grippe hätte, noch ein Medikament aufgeschrieben, das er nehmen könnte. Er würde mir Bescheid geben, sobald er wisse, was los ist, sagte er. Und das war die letzte Nachricht, die ich von ihm bekam. Am nächsten Tag kam die Todesnachricht.
Das war für uns alle ein wahnsinniger Schock. Er ist offenbar mit dem Flug, den er mit der Lufthansa gebucht hatte, nur bis Frankfurt gekommen. Die Maschine war verspätet. So war der Anschluss nach München weg. Dann hat man ihn dort in einem Hotel einquartiert, wo er in der Nacht noch den Notarzt gerufen hat. Als der kam, konnte er nur noch den Totenschein ausstellen. Vielleicht hat sich der Himmel geöffnet und ihn gerufen, worauf er sagte: "Hier bin ich."
DOMRADIO.DE: Und Sie haben direkt nach dem riesigen Schock daran gedacht, das Projekt zu Ende zuführen?
Mühlstedt: Ich bekam gleich vom Verlag eine Mail, dass wir, sobald ich mich dazu in der Lage fühlen würde, telefonieren sollten. Das haben wir dann auch getan. Wir waren uns sofort einig, dass das alles nicht umsonst gewesen sein sollte. Es ist zu 100 Prozent in seinem Sinn, wenn wir jetzt nicht die Flügel hängen lassen, sondern das Buchprojekt gut zu Ende führen.
DOMRADIO.DE: Was ist die Grundidee zu Ihrem Buch, das jetzt rechtzeitig vor Beginn des Heiligen Jahres da ist?
Mühlstedt: Rom kommt in den Medien leider sehr oft wegen kirchenpolitischer Streitigkeiten, der Hierarchie oder wegen des Papstes schlecht oder oberflächlich weg. Nichts ist so, wie man es haben möchte.
Auf der anderen Seite steht der Touristenrummel, der für die Römer seit der Covid-Krise allerdings auch lebensnotwendig ist. Wir beide haben, jeder auf seine eigene Weise, Rom als Ort anders erlebt. Als Ort, an dem spirituelle Erfahrungen möglich sind. Gerade zu diesem Heiligen Jahr, das unter dem Motto "Hoffnung" steht, möchten wir versuchen, den Menschen etwas von unseren Erfahrungen mitzugeben. So, dass man Rom anders erleben kann. So, dass es einem spirituell wirklich etwas gibt.
DOMRADIO.DE: Sie bieten Streifzüge an, die sich in zwölf Kapitel gliedern, die jeweils mit einem Motto überschrieben sind. Das reicht von "Aufbrechen", ganz am Anfang des Buches, bis "Ankommen", ganz am Ende des Buches. Ist das als eine Art Pilgergang gedacht?
Mühlstedt: Ja und nein. Ja, weil wir vorher ein Buch über Mystik geschrieben haben, das leider jetzt nicht mehr aufgelegt wird. Wir wollten einen mystischen Streifzug entwerfen, wie man vom eigenen Aufbrechen und Suchen einzelne Inspirationen bekommt, seinen eigenen Weg weiterzugehen, bis man stückweise in der Tiefe vordringt und etwas von dem, was wir Geist oder Gott nennen, spüren kann.
In dem Sinne, dass man 50 Orte hintereinander in Rom als Pilgergang abklappert, ist es aber nicht gedacht. Man kann sich einzelne Orte herauspicken und das, was man gerade sucht, bereisen. Man kann sich einzelne Orte rauspicken und besuchen und das, was fehlt, im Buch nachlesen.
DOMRADIO.DE: Sie laden zu Orten ein, die sich oft abseits der großen Touristenströme befinden. Was sind das für Orte?
Mühlstedt: Das ist zum Beispiel außerhalb von Rom Ostia Antica, ein altes Ausgrabungsgebiet, wunderschön landschaftlich gelegen. Da kann man einen kleinen Gebetsraum finden, in dem ein Christogramm, ein Christuszeichen, in eine Marmorsäule eingeritzt ist. Das hat etwas Faszinierendes, wenn man an einem Ort, der zunächst gar nichts mit dem Christentum zu tun hat, ein solches Symbol findet und anfängt nachzudenken. Was bedeutete das damals in einer Hafenstadt wie Ostia? Wie ist das Christentum gewachsen, entstanden und wie ist die Botschaft weitergegeben worden?
Von Augustinus, dem Kirchenvater, gibt es den sehr schönen Text, in dem er davon schreibt, wie er dort mit seiner Mutter Monica kurz vor ihrem Tod eine Vision hatte, in der er etwas von Gott gespürt hat. Wenn man diesen Text dann liest, hat dieser Ort eine sehr tiefe Bedeutung.
Oder die Via Appia, raus aus Rom. Oder der kleine nicht-katholische Friedhof, der im Schatten der Pyramide ist, wo früher im Stillen und Verborgenen nur die nicht-katholischen Christen, also die lutherischen oder orthodoxen Christen beigesetzt werden durften - und das auch nur nachts. Es war verboten, sich als nicht-katholischer Christ dort bei Tage beerdigen zu lassen, weil der Vatikan das nicht erlaubt hat. Das ist erst im Laufe des 19. Jahrhunderts möglich geworden. Trotzdem ist das ein Ort, an dem man so was wie Spiritualität und Hoffnung auf das Paradies spüren kann.
DOMRADIO.DE: Was macht für Sie überhaupt einen solchen Kraftort aus?
Mühlstedt: Auf jeden Fall die Möglichkeit, etwas Ruhe zu finden, etwas Innerlichkeit, die Möglichkeit zu meditieren und gleichzeitig auch einen Ort zu haben, dessen Geschichte etwas von der Wahrheit hinter den Dingen erzählt. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Zum Beispiel gibt es wunderschöne Bilder des berühmten Malers Caravaggio, der unter anderem in San Luis dei Francesie, einer Kirche, eine Berufung des Jüngers Matthäus gemalt hat. Da sitzt dieser Jünger Matthäus am Tisch, ein Zöllner, der mit seinen Leuten Geld zählt. Plötzlich kommt Christus in den Raum und weist mit einem Finger auf ihn. Matthäus sieht diese Gestalt fasziniert an und irgendwie weiß er nicht, was er davon halten soll. Er spürt aber gleichzeitig, dass er von Christus angesprochen wird.
Das ist eine Szene, die man nachvollziehen kann. Papst Franziskus hat auch mal gesagt, dass er sich genau so gefühlt hat, wie es diese Szene beschreibt, als er zum Papst gewählt wurde.
DOMRADIO.DE: Wie sind Sie denn mit Notker Wolf bei der Recherche vorgegangen?
Mühlstedt: Wir haben sehr viele Kraftorte selber erlebt. Wir sind ja seit Jahrzehnten, jeder von uns auf seine Weise, in Rom. Wir waren aber keineswegs immer zusammen. Als feststand, dass wir dieses Buch schreiben, haben wir, solange das ging, gemeinsam die Plätze aufgesucht. Wir wollten alle aufsuchen. Das wurde dann durch sein plötzliches Weggehen verhindert. Die meisten haben wir aber noch geschafft, natürlich haben wir uns ausgetauscht.
Ein Ort ist zum Beispiel die Sancta Sanctorum. Das ist eine Kapelle mit einer berühmten Christus-Ikone im früheren Papstpalastes am Lateran. Sie war lange geschlossen, aber mittlerweile ist sie wieder geöffnet. Dort sind wir gemeinsam hin. Wir hatten Glück an dem Tag. Es war nicht viel los. Wir haben uns nur angeguckt und "wow" gesagt. Da war einfach etwas, das uns angesprochen hat. Da war es nicht wichtig, ob die Reliquien authentisch sind, aus diesem oder jenem Körper stammen. Es war die Atmosphäre des Gebets, die Menschen über Jahrhunderte dahin getragen haben.
DOMRADIO.DE: Zu diesen Streifzügen bieten Sie jeweils auch kurze Texte an. Was für Texte sind das und was wollen Sie mit ihnen vermitteln?
Mühlstedt: Es sind Meditationstexte, die wir zum Teil selbst geschrieben haben. Einige stammen aus Predigten von Notker Wolf. Ich habe auch früher schon Bücher mit Impulstexten veröffentlicht. Dazu haben wir noch Texte von berühmten Leuten hinzugefügt, sei es Papst Franziskus, Goethe oder Augustinus, die auf die jeweiligen Objektive, die wir in den Kapiteln beschreiben, abgestimmt sind. Sie sollen dem, der das Buch liest, die Möglichkeit geben, das Erlebte oder das Gelesene zu vertiefen. Sie sollen ihm helfen, es von der spirituellen Seite her anzugehen.
DOMRADIO.DE: Sie sind evangelisch und haben das Buch mit einem katholischen Ordensmann zusammen geschrieben. Worin äußert sich ein ökumenischer Blick?
Mühlstedt: Wir haben uns gegenseitig sehr stark inspiriert. Ich habe von Notker Wolf beispielsweise viel über die benediktinische Tradition in Rom gelernt und über Benedikts erste Schritte als Student. Man kann heute ein kleines Kirchlein besichtigen, das über seinem Wohnhaus gebaut wurde.
Umgekehrt habe ich viel von den lutherischen Traditionen beigetragen. Luther selbst hat Rom besucht und die Stadt keinesfalls nur negativ betrachtet, wie das heute gerne dargestellt wird. Die Geschichte der Lutheraner und der evangelischen Kirchen in Rom zeigt sich heute in einem wunderbaren ökumenischen Zusammenleben, beispielsweise in modernen Bewegungen wie Sant'Egidio oder den Fokolaren. Diese Bewegungen haben wir auch besucht und beschrieben.
Wir verantworten den Text des ganzen Buchs gemeinsam, ökumenisch. Auch das ist vielleicht wichtig. Das war der Wunsch von Notker Wolf. Ich habe gefragt, ob jeder von sich aus, aus seiner Sicht einen Text schreibt. Und er sagte: "Nein, das soll echt ökumenisch sein, wir machen einen gemeinsamen Text."
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich für das Buch?
Mühlstedt: Idealerweise viele Leser, die wirklich bereit sind zu lesen und sich auf das einzulassen, was wir sagen: Viele Leser, die das Buch bei einer Romreise inspirieren kann, oder auch nur an einem Winterabend auf der Couch. Leser, die etwas von dieser Wahrheit spüren möchten, die hinter den Dingen steht, ich nenne sie gerne beim Namen, nämlich Gott. Man kann vom Herzen her versuchen, sich, sein Leben und auch die Welt zu ändern. Für mich ist das heute der einzige Weg, wie man überhaupt irgendwas bewirken kann. Aber so entsteht Hoffnung.
Das Interview führte Hilde Regeniter.