Theologin beleuchtet Perspektiven der Weihnachtsbotschaft

"Das sind Glaubensgeschichten"

Wie haben die Menschen damals erstmalig die Weihnachtsbotschaft wahrgenommen? Die Theologin Annette Jantzen hat sich in einem Buch intensiv damit beschäftigt. So zeigt sie andere Blickwinkel zu Jesus, Maria und Josef auf.

Eine Krippe in einer Schneekugel / © kipgodi (shutterstock)
Eine Krippe in einer Schneekugel / © kipgodi ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Für Ihr neues Buch "Das Kind in der Krippe" haben Sie die Weihnachtsbotschaft entstaubt, durchgelüftet und neu entdeckt. So verspricht es der Untertitel. Was für ein Staub hatte sich denn da auf die Geschichte gelegt?

Dr. Annette Jantzen / © Ute Haupts
Dr. Annette Jantzen / © Ute Haupts

Dr. Annette Jantzen (Theologin und Autorin, Frauenseelsorgerin im Bistum Aachen): Da hat sich der Staub von vielen Jahren Lesegewohnheiten darüber gelegt. Jahrtausende Lesegewohnheiten, die sich sehr weit abgelöst hatten von den heiligen Schriften, die es davor schon gab: Die Schriften der hebräischen Bibel - das waren die heiligen Schriften derer, die die Evangelien verfasst haben - und derer, die die Evangelien zuerst gehört haben. 

Wenn man das hört, was denen damals sehr geläufig war, dann bekommt die Weihnachtsbotschaft an einer ganzen Menge Stellen einen anderen Klang. 

Annette Jantzen

"Die Evangelisten erzählen Glaubensgeschichten."

DOMRADIO.DE: Sie sagen klipp und klar, dass die Evangelisten eben nicht beschreiben, wie es wirklich war, als Jesus geboren wurde. Das lag gar nicht in ihrer Absicht. Was wollten sie mit den Texten dann? 

Jantzen: Das sind Glaubensgeschichten. Diese Texte wollten in Geschichten bringen, wer Jesus für diese Menschen geworden war, nämlich dass sie in ihm der Fülle Gottes begegnet sind. 

Das sind Erfahrungen der Verbundenheit, des Einsseins, die Erfahrung, satt zu werden. Die Erfahrung, dass es genug für alle gibt. Die Erfahrung, dass man Schuld hinter sich lassen kann. Die Erfahrung, dass die tödliche Gewalt nicht das letzte Wort hat. 

Wenn man von solchen Erfahrungen, wo die Fülle Gottes ins Leben tritt, erzählen will, dann braucht man eine Geschichte, denn sonst ist man sehr leicht bei sehr großen Worten, die dann nicht mehr mit Leben gefüllt sind. Deswegen erzählen die Evangelisten Glaubensgeschichten. Sie verwenden dafür Motive ihrer eigenen heiligen Schriften, unseres Alten Testaments. 

Annette Jantzen

"Wir haben aus einer gut erforschten archäologischen Befundlage das Wissen, wie Menschen gelebt haben. Wir bringen das aber nicht zusammen mit der Geschichte."

DOMRADIO.DE: Wenn man auf die Krippe bei Lukas blickt, warum dürften sowohl der Evangelist als auch sein frühes Publikum da an etwas ganz anderes gedacht haben als wir heute? 

Jantzen: Das ist total interessant, weil das eigentlich bei uns ganz bekannte Themen sind, wie so ein Ein-Raum-Haus in Bethlehem und in den anderen Teilen Israels, der römischen Provinz Palästina damals aussah, wo die Menschen gelebt haben. 

Wir kennen das ja. Wir erklären das zum Beispiel den Kommunionkindern, wenn es darum geht, wie das Dach abgedeckt wird, um den Gelähmten auf der Trage herunterzulassen. Wir erklären, warum Jesus sagt, eine Lampe leuchtet allen im Haus. Da hat ein Kind, das in einem Mehrfamilienhaus aufwächst, erst mal ein Fragezeichen im Gesicht. 

Wir haben aus einer gut erforschten archäologischen Befundlage das Wissen, wie Menschen gelebt haben. Wir bringen das aber nicht zusammen mit der Geschichte. Das habe ich jetzt gemacht. Das ist ja auch kein Geheimwissen, man muss nur zwei verschiedene Wissensbestände miteinander verknüpfen. 

Arbeitsgeräte von Archäologen / © kray_obrazov (shutterstock)
Arbeitsgeräte von Archäologen / © kray_obrazov ( shutterstock )

Der eine ist: Wie sah so ein Haus aus? Da haben Menschen und Vieh in einem Raum unter einem Dach zusammengelebt. Wer damals ein bisschen Geld hatte und etwas sparen konnte, der konnte sich einen Raum anbauen. Das ist dann die Herberge, die vermietet man an zahlende Gäste. 

Wenn Lukas erzählt: "Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn es war kein Raum in der Herberge", dann hören die ersten Hörerinnen und Hörer der Geschichte: Aha, der Raum für zahlende Gäste ist schon voll. Deswegen wird das Kind im Heim der Familie geboren und es wird in die Futterkrippe gelegt. Das ist normalerweise so eine längliche Vertiefung in der halbhohen Wand, die Menschen und Tierbereiche voneinander trennt, wenn man sich das Ganze schon ziemlich eng vorstellen muss. 

Das heißt, das ist eine so selbstverständliche Solidarität, dass es gar nicht mehr eigens groß erzählt wird, das wird einfach vorausgesetzt. An dieser Solidarität erkennen die Hirten, dass Friede auf Erden möglich ist. 

DOMRADIO.DE: Sie beklagen, dass durch die Jahrhunderte hinweg bei der Deutung auch verschiedene Sprachebenen vermischt worden sind, nämlich die Sprache der Fakten einerseits mit einer symbolischen Sprache des Glaubens andererseits. Bestes Beispiel: Die Jungfrauengeburt, die Sie das "Einhorn der Antike" nennen. Das müssen Sie mal erklären. 

Jantzen: Das ist ein Bild, um möglichst griffig zu erklären, was da abläuft. Da verwenden Menschen ein Motiv, das alle irgendwie kennen, mit dem auch die meisten Leute schon mal in Berührung gekommen sind und von dem alle wissen, dass es das nicht gibt in der realen Welt. 

Wir kommen heute immer mal wieder an einer Einhorn-Postkarte vorbei oder wenn man bei WhatsApp eine Nachricht schreibt, dann kann man in den Emojis danach suchen. Da gibt es auch ein Einhorn. Wir wissen alle, wie so etwas aussieht. Wir wissen aber auch, dass es Einhörner nicht gibt. Trotzdem haben wir uns darauf geeinigt, dass es nicht unverständlich ist, wenn irgendwer was von einem Einhorn erzählt. 

So ist es mit der Jungfrauengeburt auch. Die wissen, dass Kinder nicht vom Himmel fallen. Und die erzählen es trotzdem, weil sie mit dieser Erzählung etwas Wichtiges transportieren können. Da kommt natürlich jetzt eine Bedeutungsebene mit hinein, die dem Einhornbild heute abgeht. Da geht es darum, dass Jesus der Mensch von Gott ist. Und da geht es darum, dass Maria, die Prophetin Gottes, keinen Mann braucht, um schwanger zu werden. 

Da geht es auch um die Befreiung von patriarchalen Strukturen, wo die Frau immer im Besitz eines Mannes ist. Sie wird nie die Frau von Josef. Sie ist Maria von Nazareth, die Gottesmutter. Das ist etwas erheblich anderes als eine Spekulation darüber, wie das nun genau gegangen ist mit der Empfängnis Jesu. Das hat die Autorinnen und Autoren, die Hörerinnen und Hörer gar nicht interessiert. 

DOMRADIO.DE: Es geht, wie Sie sagen, nicht um eine individuelle Lebensgeschichte, sondern um Geschichten, die älter sind und zu allen Zeiten und in vielen Kulturen zu finden sind. Was sind das für Geschichten? 

Jantzen: Das sind Geschichten davon, wie sich das Leben auch unter ungünstigen Bedingungen durchsetzen kann. Das sind Geschichten davon, wie Menschen zu Mut und Zuversicht finden. Und es sind Geschichten davon, wie Menschen sich trauen, dem nachzugehen, was in ihrem Leben unbedingt Geltung hat. 

Das sind auch viele Frauengeschichten, die vom Umgehen mit dem Leben in widrigen Bedingungen erzählen und davon, dass einzelne Frauen sich dann aufrichten und sehr klar ihren Weg durch das Leben gehen. Das ist auch bei den biblischen Geschichten so. 

Annette Jantzen

"Es ist eine wunderbare Entdeckung, dass Maria nicht nur durch ihr Muttersein eine besondere Figur wird, sondern dass sie im Lukasevangelium sehr klar als eine Prophetin gezeichnet wird."

DOMRADIO.DE: Sie sehen Maria in der Tradition hebräischer Prophetinnen. Warum ist das so wichtig? 

Jantzen: Es ist eine wunderbare Entdeckung, dass Maria nicht nur durch ihr Muttersein eine besondere Figur wird, sondern dass sie im Lukasevangelium sehr klar als eine Prophetin gezeichnet wird. Denn eine Sohnesverheißung mit einer Namensvorgabe – du sollst ihm den Namen Jeshua, Rettung geben – ist ein relativ bekanntes Phänomen in der hebräischen Prophetie. 

Statue der Muttergottes mit dem Jesuskind auf dem Arm. / © Immaculate (shutterstock)
Statue der Muttergottes mit dem Jesuskind auf dem Arm. / © Immaculate ( shutterstock )

Wenn dann Maria sagt "Ja" und dann losgeht, dann ist sie bei Elisabet ja auch ganz bewusst in diese Rolle hineingezeichnet, in dem sie dann ein prophetisches Lied davon singt, dass Gott die Armen rettet und sich der Unterdrückten annimmt. Das heißt, Maria bringt nicht nur Jesus zur Welt, sondern Maria entfaltet auch, wer Gott für die Menschen wird, wenn Gott sich als die Rettung zeigt. Das tut sie in ihrem Lied im Magnificat. Das ist ein wunderbarer, prophetischer Schatz. 

DOMRADIO.DE: Wie kann es dann aber sein, dass diese kultur- und religionsgeschichtliche Einbettung heute so wenig bewusst ist? 

Jantzen: Die zwei testamentlichen Autoren nehmen Motive des ersten Testaments, um auszuweisen, dass das, was sie schreiben, wahr ist und dass man sich darauf verlassen kann, dass das schriftgemäß ist. Dann entfernen wir uns im Christentum aber mehr und mehr von dieser ersttestamentlichen Grundlegung. Immer weniger Menschen kennen sie, schon gar nicht in ihren Feinheiten. Und dann dreht sich das Ganze um. Dann versteht man es später so: Vom ersten Testament ist nur das wahr, was auch im Zweiten steht. 

Damit schließt sich ein ganzer Klangraum. Das ist so, wie wenn Sie einen großen Klangteppich mit schönen Akkorden haben, und dann legt sich darüber eine neue Melodie, die die Akkord-Grundtöne aufnimmt. Wenn dieser Klangraum mehr und mehr verstummt, dann haben Sie mit den Schriften des zweiten Testaments immer noch eine schöne Melodie. Die funktioniert auch noch und sie ist auch immer noch wichtig und wertvoll. Es fehlen ihr aber die Untertöne. Die möchte ich wieder sichtbar und hörbar machen. 

DOMRADIO.DE: Sie wollten die Weihnachtsbotschaft entstauben und durchlüften und dadurch neu entdecken. Welchen Kern haben Sie da wiedergefunden? 

Jantzen: Ich habe vor allem gefunden, wie vielfältig die Bezüge auch in den sehr wenigen Versen sind, die die Weihnachtsgeschichten nur umfassen. Ich habe Johannes jetzt mal ausgelassen. Das ist auch ein Aufgreifen ersttestamentlicher Motive, aber das ist ein ganz eigener Kosmos. Ich habe also Matthäus und Lukas genommen, und ich habe ganz wunderbare Motive gefunden. 

Ich habe zum Beispiel gefunden, dass das "Überschatten" – die Heilige-Geist-Kraft wird dich überschatten – ein Wort ist, das für Gottes Begegnungen im ersten Testament steht. Da liegt die Wolke Gottes, diese Lichtwolke auf dem Zelt der Begegnung, in dem das Volk Israel die Tafeln der Zehn Gebote durch die Wüste trägt. Und sie können nicht weiterziehen, bis sich diese Wolke gehoben hat. 

Wenn der Engel zu Maria sagt: "Du wirst einen Sohn gebären, und dem sollst du den Namen Jeshua geben", ist das ziemlich genau wortgleich, wie das, was der Engel zu Hagar sagt. Nur Hagar, die Magd von Abraham und Sara, weiß ja schon, dass sie schwanger ist. Wegen ihrer Schwangerschaft ist ja da das Gefüge durcheinandergeraten und deswegen ist sie in die Wüste verstoßen worden. 

Bei ihr heißt es dann, "du hast empfangen in deinem Schoß" und "du wirst einen Sohn gebären", und "dem sollst du den Namen Ismael geben". Und bei Maria, die von der Schwangerschaft noch nicht weiß, heißt es, "Du wirst empfangen in deinem Schoß", und "du wirst einen Sohn gebären, und dem sollst du den Namen Jeshua geben". 

Das heißt, es gibt ein Volk neben Israel, das auch unter dem Segen Gottes steht. So wie die Ismaeliter im ersten Testament, so die Jesus-Gläubigen im zweiten Testament. Von solchen Entdeckungen habe ich eine ganze Reihe gemacht, und die finde ich ganz wunderbar. 

DOMRADIO.DE: Feiern Sie denn dann in diesem Jahr Weihnachten vielleicht auch ein bisschen anders, nachdem Sie sich so intensiv mit der Geschichte dahinter beschäftigt haben? 

Jantzen: Eigentlich geht es bei Weihnachten immer auch um eine Unterbrechung, da kommt etwas Neues in die Welt. Trotzdem geht es natürlich bei Weihnachten auch viel um Traditionen. Ich lebe in meiner Familie mit drei Kindern zusammen. Kinder wollen nicht so gerne neue Traditionen. 

Weihnachtsbaum / © IgorAleks (shutterstock)

Ich kann mir aber schon vorstellen, dass wir in diesem Jahr bei der Weihnachtsgeschichte nicht nur Lukas lesen, sondern da auch reinflechten, welche Texte das aufnimmt und das auch noch mal mit zum Klingen bringen. Mal schauen, was die Kinder dazu sagen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Information: Zum Thema hat Annette Jantzen das Buch "Das Kind in der Krippe. Die Weihnachtsbotschaft – entstaubt, durchgelüftet, neuentdeckt" geschrieben.

Weihnachten

Weihnachten ist das Fest der Geburt Jesu Christi. Wann genau vor etwa 2.000 Jahren Jesus geboren wurde, ist nicht bekannt. Die Feier des 25. Dezember als Geburtsfest Jesu ist erstmals für das Jahr 336 in Rom bezeugt.

Weihnachten heißt so viel wie heilige, geweihte Nächte. Die Geburt Jesu bedeutet nach christlichem Verständnis die Menschwerdung Gottes; in Jesus hat sich Gott den Menschen mitgeteilt, sich in ihre Geschichte hinein begeben, sich ihrer erbarmt und ihnen Heil geschenkt. Deshalb gilt Weihnachten als Fest der Liebe.

Weihnachtsbaum / © Bernd Weissbrod (dpa)
Weihnachtsbaum / © Bernd Weissbrod ( dpa )
Quelle:
DR