Eigentlich hat er ja gar keine Blätter, der Tannenbaum. Auch wenn die im beliebten Weihnachtslied "O Tannenbaum" als sehr grün oder sehr treu beschrieben werden. Und eigentlich war das Lied vom Tannenbaum zuerst auch gar kein Weihnachtslied. Aber von vorn.
Schon in einer deutschsprachigen Liedersammlung aus dem 16. Jahrhundert findet sich ein Liedtext über einen Baum, der im Gegensatz zu anderen Bäumen im Sommer wie im Winter grünt. Den ersten Text zum bekannten "O Tannenbaum", von dem die heutige erste Strophe stammt, schrieb dann der Potsdamer Pädagoge und Theologe August Zarnack um 1819.
Mitnichten ging es darin aber um einen abgesägten und mit Lichtern behangenen Baum im heimischen Wohnzimmer. Vielmehr bildete die Strophe den Auftakt zu einem traurigen Liebeslied, das von einem treulosen Mägdelein handelt, dessen Falschheit sich im Bach spiegelt und das sich die Nachtigall zum Vorbild genommen hat, die im Herbst die Biege macht. Im Gegensatz zum Tannenbaum mit den treuen Blättern.
Vom Liebeslied zum Weihnachtslied
Erst einige Jahre später wurde "O Tannenbaum" dann zum Weihnachtslied. Der Leipziger Lehrer und Komponist Ernst Anschütz warf Nachtigallen, Flüsse und das Mägdelein 1824 aus dem Text und dichtete die Strophen zwei und drei zur ersten hinzu. Die Melodie kam von einem Studentenlied, das seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert ist und in dem süßer Wein, süße Küsse und einiges mehr besungen wurden. Und das nicht nur für "O Tannenbaum", sondern auch für ein isländisches Schullied, Hymnen von US-Staaten und einen Fangesang des FC Chelsea zur Vorlage wurde.
Text und Melodie von "O Tannenbaum" finden sich dann erstmals zusammen im "Musikalischen Schulgesangbuch" von 1824. Dass beides von Lehrern stammt, ist kein Zufall: Im 19. Jahrhundert schrieben viele Lehrer und auch Pfarrer Weihnachtslieder für das einfache Volk. Auch bei "Alle Jahre wieder" oder "Ihr Kinderlein kommet" war es so.
Im Lauf der Zeit gab es viele Parodien
Der einfache Text und die eingängige Melodie luden im Laufe der Zeit zahlreiche kreative Köpfe zu Parodien ein. Schon 1843 kursierte laut dem 2020 gestorbenen Historiker Hartmut Heller eine ironische Ode an den Bergbau: "O Zollverein, o Zollverein, wie ist so groß dein Segen!" Nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II. 1918 machte eine Version die Runde, in der darüber spekuliert wurde, was der Kaiser nun mache: "O Tannenbaum, O Tannenbaum, der Kaiser hat in' Sack gehaun. Er kauft sich einen Henkelmann und fängt bei Krupp in Essen an."
Auch Schülerversionen ("Der Lehrer hat mir 'n Arsch verhaun"), eine Fassung über einen diebischen Geschenkebringer ("Der Weihnachtsmann will Äpfel klau'n") und kindliche Spaßversionen ("Die Oma hängt am Gartenzaun/liegt im Kofferraum") entwickelten sich im Laufe der Zeit. Der ursprüngliche Text wurde zudem in viele Sprachen übersetzt.
"O Tannenbaum" in der NS-Zeit
Bei aller Bekanntheit ist "O Tannenbaum" jedoch ein Weihnachtslied, das den eigentlichen Kern von Weihnachten, die Geburt Jesu Christi, völlig außen vor lässt. Vielleicht liegt es daran, dass das Lied sogar zur Zeit des Nationalsozialismus gesungen wurde. Viele andere Weihnachtslieder fielen der Zensur der NS-Propaganda zum Opfer. Für einige Stücke wurden sogar Ersatzlieder geschrieben. Etwa für "Stille Nacht", was das Regime mit dem neukomponierten "Hohe Nacht der klaren Sterne" verdrängen wollte, in dem Julfeuer und der NS-Mutterkult besungen wurden.
Statt der Geburt eines jüdischen Wanderpredigers feierte man ein vermeintlich germanisches Julfest, statt eines Christbaums stellte man eine Jultanne auf. "O Tannenbaum" ist sogar im Büchlein "Deutsche Kriegsweihnacht" abgedruckt, das zwischen 1941 und 1944 von der NSDAP herausgegeben wurde.
Spott in Hakenkreuz-Form
Noch zehn Jahre zuvor hatte der Künstler und Kritiker des aufkommenden Nationalsozialismus John Heartfield das Lied zum Anlass für eine Karikatur genommen. In die "Arbeiter-Illustrierte-Zeitung" setzte er 1934 aus dem Exil heraus ein Bild von einer zerrupft aussehenden Tanne im Hakenkreuz-Baumständer, deren Äste in Hakenkreuz-Form angeordnet sind, und schrieb darüber: "O Tannenbaum im deutschen Raum, wie krumm sind deine Äste."
Das Lied vom Tannenbaum hat also eine bewegte Geschichte hinter sich. Offen bleibt, welche künstlerisch veranlagten Köpfe das Lied in Zukunft verballhornen werden. Doch egal, was dabei herauskommt: Unter dem echten Tannenbaum am Heiligen Abend wird man es wohl immer wieder singen. Vielleicht auch noch in 200 Jahren.