Staat muss Diskriminierung bei Belegung von Intensivbetten verhindern - Kirchen begrüßen Entscheidung

Schutzauftrag gegenüber Behinderten

Müssen in einer Pandemie viele Patienten auf wenige Intensivbetten verteilt werden, dürfen Menschen mit einer Behinderung nicht benachteiligt werden. Der Staat müsse hierfür "unverzüglich" Regelungen schaffen, entschied das Verfassungsgericht.

Ein medizinischer Mitarbeiter in Schutzkleidung behandelt einen Patienten auf der Intensivstation / © Roman Yarovitcyn/AP (dpa)
Ein medizinischer Mitarbeiter in Schutzkleidung behandelt einen Patienten auf der Intensivstation / © Roman Yarovitcyn/AP ( dpa )

Der Gesetzgeber muss unverzüglich Vorkehrungen treffen, um Menschen mit einer Behinderung für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage zu schützen. Behinderte und chronisch kranke Menschen dürfen nach einer am Dienstag in Karlsruhe veröffentlichten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen zu knapper Klinikbetten in der Corona-Pandemie bei der intensivmedizinischen Behandlung nicht benachteiligt werden (AZ: 1 BvR 1541/20). Behinderten- und Sozialverbände begrüßten den höchstrichterlichen Beschluss. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte am Dienstag zu, "zügig" einen Gesetzentwurf vorzulegen.

Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Grundsatzentscheidung klar, dass der Staat "wirksame Vorkehrungen" treffen müsse, damit eine Diskriminierung behinderter Menschen bei der Verteilung "pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen" wirksam verhindert wird. Der Gesetzgeber habe solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen und müsse diese "unverzüglich" nachholen.

Anlass des Rechtsstreits waren die zu Beginn der Corona-Pandemie im April 2020 veröffentlichten "klinisch-ethischen Empfehlungen" der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Der Zusammenschluss medizinischer Fachgesellschaften will mit seinen Leitlinien Ärzten Hilfestellung geben, nach welchen Kriterien sie Patienten für eine intensivmedizinische Behandlung bei zu wenig Klinikbetten auswählen können.

Neun Beschwerdeführer mit einer Behinderung rügten vor Gericht, dass die Divi-Empfehlungen sie diskriminierten. Der Staat müsse zu ihrem Schutz Vorgaben machen, wie eine Patientenauswahl, die sogenannte Triage, bei zu knappen Klinikressourcen erfolgen soll. Die Verfassungsbeschwerde sei begründet, entschied das Bundesverfassungsgericht.

Kirchen und Verbände begrüßen Entscheidung

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, hat die Karlsruher Entscheidung begrüßt. "Die Gemeinschaft steht vor der dringenden Aufgabe, aus der Pandemie zu lernen und schnell die notwendigen Schlüsse zu ziehen, um auch in schwierigen Situationen eine ausreichende medizinische Versorgung der Bevölkerung zu sichern", erklärte Bätzing am Dienstag in Bonn.

Auch die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, begrüßte die Entscheidung. Das Gericht habe klargestellt, dass Menschen mit einer Behinderung bei der Entscheidung über knappe Behandlungskapazitäten nicht benachteiligt werden dürfen, sagte Kurschus dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland" am Dienstag. Der Staat habe nun eine konkrete Schutzpflicht und müsse Maßnahmen ergreifen, dass eine solche Benachteiligung auch tatsächlich nicht eintritt.

Kurschus sagte, sie mahne in der aktuellen Corona-Lage an, "alles Menschenmögliche zu tun, damit es nicht zu einer Überlastung des Gesundheitswesens kommt". "Nach wie vor ist eine möglichst hohe Impfquote dafür eine wichtige Voraussetzung", fügte die westfälische Präses und oberste Repräsentantin der deutschen Protestanten hinzu.

Für den Deutschen Caritasverband ist die Entscheidung "eine große Beruhigung in einer Zeit, in der nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Pandemie die Grenzen unseres Gesundheitssystems über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinaus fordert". Dem Bundesverband evangelische Behindertenhilfe ist "die Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts wichtig, dass bei allen Menschen allein auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit abgestellt werden darf".

Gesetzgeber hat Gestaltungsspielraum

Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte das Urteil. "Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat." Jetzt aber heiße es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, sagte dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland", er gehe davon aus, dass der Gesetzgeber rasch reagieren wird. "Dabei müssen die Menschen mit Behinderungen und deren Selbstvertretungsorganisationen als Expertinnen in eigener Sache beteiligt werden", forderte er.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber einen "Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum", wie er behinderte und chronisch kranke Menschen im Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage schützt.

Es müsse sichergestellt sein, "dass nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird", betonten die Verfassungsrichter. Dabei habe der Gesetzgeber zu berücksichtigen, dass das ärztliche Personal für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im jeweiligen Einzelfall die letzte Verantwortung trägt.

Der Gesetzgeber könne Vorgaben zum Verfahren machen, wie eine Triage aussehen könne, etwa ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder für die Dokumentation. Es gebe auch die Möglichkeit, "spezifische Vorgaben" für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege festzulegen, um so Benachteiligungen wegen einer Behinderung zu vermeiden.


Quelle:
epd