DOMRADIO.DE: Frau Will, seit einigen Jahren beschäftigen Sie sich in der Trauerarbeit mit den seelischen Spätfolgen von Kriegserfahrungen, weil das Thema wie von selbst in Gesprächen mit alten und hochbetagten Menschen immer wieder aufbricht. Denn als Angehörige der Kriegsgeneration haben sie – oft durch Flucht und Vertreibung ausgelöst – zum Teil schwere Traumata davongetragen. Am 20. Juni wird der Weltflüchtlingstag begangen, der seit 2015 zugleich auch als Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg gilt. Wie hängen Vergangenheit und Gegenwart zusammen?
Eva-Maria Will (Theologin und Trauerexpertin): Migration ist in Deutschland kein gesellschaftliches Randthema, sondern ein Phänomen, das viele betrifft und – wie in den letzten Jahren zu beobachten ist – auch herausfordert und spaltet. Denn fast jeder Vierte hat einen Migrationshintergrund. Das sind insgesamt mehr als 19 Millionen Menschen. Innerhalb von nur zehn Jahren – von 2007 bis 2016 – sind in unser Land allein elf Millionen Menschen eingewandert. Das Unbekannte und Fremde macht vielen angst. Was viele nicht wissen: Rund acht Millionen Menschen sind gleichzeitig aber auch weggezogen. Von daher befindet sich unsere Gesellschaft ständig im Wandel, der für manche etwas Bedrohliches hat – bis hin zu der Tatsache, dass Zugewanderte aus Nahost und afrikanischen Staaten abgelehnt und diskriminiert werden.
Ähnlich muss man sich das für die Zeit um 1945 vorstellen. Auch damals stießen die Flüchtlinge und Vertriebenen auf Vorbehalte. Und das, obwohl beispielsweise im Nachkriegsdeutschland Deutsche auf eigene Landsleute trafen. Da, wo sie ankamen, waren sie unerwünscht. Momentan wiederholt sich also ein Teil von Geschichte. Und Erfahrungen in der Trauerpastoral zeigen, wie lange die furchtbaren Folgen von Flucht und Vertreibung bei den Betroffenen nachwirken können.
DOMRADIO.DE: Das Thema „Rassismus“ drängt sich am Weltflüchtlingstag geradezu auf…
Will: Und nicht erst angesichts der brutalen Ausschreitungen in Amerika. Es ist bedenklich, dass auch in Deutschland die Gewalt gegenüber Asylbewerbern und ausländischen Mitbürgern in erschreckendem Maße zunimmt. In diesem Jahr hat die Zahl der Straftaten, die rassistisch, antisemitisch oder islamfeindlich motiviert sind, erheblich zugenommen. Das betrifft gerade den Bereich Hasskriminalität. Oder auch das Erstarken des Rechtspopulismus im Osten lässt sich annähernd damit erklären, dass es in einem totalitären Staat wie der ehemaligen DDR so gut wie keine Menschen mit Migrationshintergrund gab. Die ostdeutsche Bevölkerung konnte von daher auch keine Erfahrungen mit der Herausforderung einer möglichen Integration machen So ist es nicht verwunderlich, dass einige Menschen, die dort leben, heute Angst vor Überfremdung haben oder davor, dass andere ihnen etwas wegnehmen könnten.
Das entschuldigt keineswegs den Fremdenhass. Aber es macht diese Entwicklungen nachvollziehbar, die eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft und auch für die Kirchen sind. Als Christen dürfen wir nicht müde werden, uns für die gleiche Würde aller Menschen einzusetzen. Wir dürfen nicht wegschauen oder mitmachen, wenn Vorurteile und Hass verbreitet werden. Angesichts von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind eine klare Haltung sowie Respekt und Solidarität gefragt. Papst Franziskus spricht in diesem Zusammenhang von der "Globalisierung der Nächstenliebe". Das Unglück von Flüchtlingen – ob in unserer Nachbarschaft oder auf dem Mittelmeer – darf uns nicht kalt lassen!
DOMRADIO.DE: Sie haben es selbst schon angesprochen: Wenn es um die aktuelle Flüchtlingsthematik geht, wird oft ganz automatisch der Bogen zu der dramatischen Situation gegen Kriegsende 1945 geschlagen. Hat das 75 Jahre später denn in der öffentlichen Wahrnehmung überhaupt noch eine Bedeutung?
Will: Öffentliches Erinnern ist immer wichtig, und wir können aus der Geschichte lernen. Auch nach 1945 kamen in kürzester Zeit rund 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene im Nachkriegsdeutschland an. Deutschland war ja nun wesentlich kleiner geworden. Die politische Landkarte hatte sich verändert. Damals gab es keine Willkommenskultur, sondern harte Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen: um das Dach über dem Kopf, um Lebensmittel und Arbeitsplätze. Die Integration der Vertriebenen war eine ungeheure Leistung, aber auch viel schwieriger und langwieriger, als es rückblickend erscheint. Ohne den Überlebenswillen und den Ehrgeiz der Vertriebenen wäre der Wiederaufbau unmöglich gewesen. Deshalb ist es richtig, sich auch noch nach 75 Jahren an dieses Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern. Es gab damals eine enge Verflechtung von Einheimischen und Vertriebenen. Und es gibt sie heute. Denn es geht um eine große Aufgabe, wenn wir alle dauerhaft friedlich in diesem Land zusammenleben wollen.
DOMRADIO.DE: Inwiefern spielen Flucht und Vertreibung eine nicht unwesentliche Rolle in der Trauerpastoral?
Will: Lange wurde vieles verdrängt. Doch am Ende des Lebens holen die Erinnerungen viele Menschen wieder ein. Was der Einzelne für sich in den Grauen des Krieges erlebt hat, spielte in den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs kaum eine Rolle. Das hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die heute Hochbetagten, die in der Lage sind, über ihre Erlebnisse zu sprechen, schildern, wie sie als Kinder, in Viehwaggons eingepfercht, mitten im eiskalten Winter transportiert wurden, wie sie in überfüllten Durchgangslagern entlaust wurden oder später bei Bauern an der Tür geklopft und um Milch und Brot gebettelt haben. Oder wie sie in ihrem Umfeld ausgegrenzt wurden. Diese extremen Erlebnisse sowie die Erfahrungen von physischer und auch sexueller Gewalt, unter der besonders die Frauen zu leiden hatten, haben sich in die Seele eingebrannt. Und leider sind das Erfahrungen, wie sie Flüchtlinge heute weltweit auch machen.
DOMRADIO.DE: In welchen Situationen zeigen sich denn unvermutet solche unbearbeiteten Traumata?
Will: Etwa bei einem Trauerfall. Dann kommen Gefühle, die bei einer lang zurückliegenden Verlustsituationen gemacht wurden, mit einem Mal wieder hoch. Dann erleben Trauernde zum Beispiel den Tod von Vater und Mutter oder des kleinen Bruders während der Flucht noch einmal neu. Das kann bei einem Kondolenz- oder Trauergespräch zu heftigen Reaktionen und Gefühlsausbrüchen führen.
Außerdem ist inzwischen bekannt, dass Menschen – gerade Frauen, die vielleicht im Krieg vergewaltigt wurden und jetzt in Kranken- und Alteneinrichtungen therapiert oder betreut werden – verschüttete Erinnerungen wieder durchleben. Aber auch Männer reagieren ablehnend oder verstört, wenn sie von Pflegepersonen betreut werden, die nicht ihre Sprache sprechen. Das richtet sich dann nicht gegen das aktuelle Personal direkt. Aber die Pflegesituation kann Auslöser dafür sein, sich an Menschen zu erinnern, von denen sie vor vielen Jahrzehnten Gewalt erfahren haben. Daher ist es wichtig, dass Seelsorger, Ärzte und Pflegepersonal entsprechend geschult werden, um mit solchen Situationen angemessen umgehen zu können. Hier besteht durchaus noch Handlungsbedarf.
DOMRADIO.DE: Was kann Menschen helfen, die unter belastenden Erinnerungen leiden?
Will: In Pfarrgemeinden, Bildungswerken und Familienbildungsstätten sind in den letzten Jahren Erzählcafés und Gesprächskreise veranstaltet worden. Hier haben Betroffene die Möglichkeit, über ihre Erinnerungen und Erlebnisse zu sprechen. Sie machen die Erfahrung, dass es anderen Menschen ähnlich ergangen ist. Das hilft, um mit den psychischen Belastungen auch noch Jahrzehnte später umgehen zu können. Solange es jedenfalls noch Angehörige der Erlebnisgeneration und direkte Nachgeborene gibt, werden die seelischen Folgen von Flucht und Vertreibung Inhalt der Trauerpastoral sein. Denn auch die Kinder der Kriegsgeneration – die heute Erwachsenen zwischen 50 und 70 Jahren – empfinden Trauer, obwohl sie selbst keine direkten Verlusterfahrungen gemacht haben. Die persönlichen Erfahrungen überdauern im Familiengedächtnis und werden über Generationen weitergegeben.
DOMRADIO.DE: Hat Corona denn die ohnehin schon prekäre Situation von vielen Geflüchteten noch verschärft?
Will: Die Unterbringung in Sammelunterkünften, wo Hygiene- und Abstandsregeln nicht ausreichend eingehalten werden können, erhöht natürlich die Infektionsgefahr. Wir hören ja, dass aus Heimen, wo Asylbewerber in Mehrbettzimmern untergebracht sind und sie sich Sanitäranlagen teilen oder bei der Essensausgabe Schlange stehen müssen, erhöhte Zahlen von positiv auf Covid-19 Getesteten gemeldet werden.
Viele Tragödien aber spielen sich zurzeit jenseits einer großen Weltöffentlichkeit ab: zum Beispiel in Ländern wie Indien oder armen afrikanischen Staaten. Besonders erschütternd ist für mich nach wie vor auch die Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in den Lagern auf den griechischen Inseln, die wegen der Pandemie weitgehend aus dem Blick geraten sind. Selbst von der Aktion der Bundesregierung, bis zu 500 Kinder unter 14 Jahren nach Deutschland zu holen, hört man nicht mehr viel. Dabei ist es – noch verschärfter durch Corona, das sich wahrscheinlich in den Lagern rasant ausbreitet – eine Frage der Menschlichkeit, möglichst viele Flüchtlinge aus dieser menschenunwürdigen Lage zu befreien.
DOMRADIO.DE: Angesichts dieser unzähligen Brandherde weltweit: Welche Chance bietet uns der Weltflüchtlingstag?
Will: Wir dürfen uns einem Lernprozess nicht verschließen, der sich geradezu zwangsläufig aus unserer Geschichtsbewältigung ergibt. Auch heute müssen wir geflüchteten Menschen vor allem Integrationsangebote machen, damit sie eine realistische Chance haben, ihre Fluchterfahrungen zu bearbeiten und einen Neuanfang unter menschenwürdigen Lebensbedingungen zu wagen. Der Weltflüchtlingstag bietet eine gute Gelegenheit, Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht zu vergessen und gleichzeitig daraus für die Gegenwart und Zukunft zu lernen. Das Thema „Flüchtlinge“ geht uns alle an. Denn wenn uns die Corona-Pandemie eines gelehrt hat, dann, dass unser Leben fragil ist und morgen am Tag jeder in eine bedrückende Notlage geraten kann.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti (DR)